EDITH CLEVER: So zart, so weh

Marginalien zum KLEIST-JAHR 2011

  • Lesedauer: 2 Min.

Mein Verhältnis zu Kleist läuft natürlich sehr stark über die Sprache. Kleist wurde nicht verstanden, vermutlich konnte man ihn auch gar nicht verstehen. Goethe hat das nicht gekonnt, obwohl er sich für ihn interessiert hat. Nun, er war eben auch mit dem Werk eines lebenden Menschen konfrontiert, anders als wir, die wir dieses Werk erst nach vielen Jahren in Händen halten. Kleist ist mir, zumindest, was die Dramatik betrifft, näher als Goethe, er hat einfach diese Zartheit und den tiefen Schmerz in seinen Figuren, die, anfangs sicher in ihre Verhältnisse, in ihre Familien eingebettet, plötzlich den unbegreiflichsten Verstörungen ausgesetzt sind ...(Etwa) Penthesilea: Achill wollte gar nicht mehr mit ihr kämpfen, sondern sich gefangen geben, und sie musste denken, er fordert sie heraus. Was für ein furchtbares Missverständnis! Wenn Penthesilea dann langsam erkennt, was sie angerichtet hat, ist das von einem so süßen Schmerz geprägt, zo zart und weh, das kenne ich von keinem anderen Dichter. Auch der Prinz von Homburg gerät, obwohl sein Fall anders gelagert ist, in eine Situation, die er sich nicht erklären kann, die ihn komplett übereteigt. Plötzlich steht er völlig im Nichts und muss ganz und gar nur auf sich selbst vertrauen. Grandios!

Warum werden die Klassiker nicht so gut und genau aufgeführt, wie es nur irgend möglich ist? Ich war immer davon überzeugt, dass wir, ob wir wollen oder nicht, Kinder unserer Zeit sind. Insofern kann man, wenn man sich ernsthaft einem Text zuwendet, ihn sowieso nur mit den Augen des heutigen Menschen wahrnehmen. Deshalb muss man sich gar nicht so furchtbar viel Mühe geben, um die Sachen zu modernisieren, Wieso nimmt man die Klassiker nur noch als Material oder als Anlass, um sich was anderes dazu auszudenken? Das ist doch fad! Und schade!

Aus: Warum ist uns Kleist so nahe? Schauspielerin Edith Clever in einem Interview mit Irene Bazinger, FAZ, 23. April 2011

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