»Um uns die Fremde«

Großer tapferer Dichter: Vor 125 Jahren wurde Max Herrmann-Neiße geboren

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 5 Min.

In Paris fühlte er sich noch wohl. Er lief durch die Stadtviertel, kletterte auf den Montmartre, stand am Grab Napoleons im Invalidendom, spazierte über den Père-Lachaise, besichtigte Versailles und den Louvre, und nachts saß er immer vor einem Café und sah den Lieferwagen zu, die zu den Hallen rollten. Paris war das Vertraute, »Heimat-Ersatz«, überall traf er Bekannte, doch dann, nach zwei Wochen »vielfältigen Erlebens«, stieg er in den Zug nach London.

An diesem späten Septembertag 1933 begann sein Leben in der Fremde. Fremd die Sprache, die Stadt, die Menschen. Es war »eine ganz, ganz andere Welt«, in die er geriet, »eine unvertraute, verschlossene, von der gar keine Fäden mehr zu der meinen führen«. Erst jetzt war er im Exil.

Wer Max Herrmann-Neiße war, wusste in London niemand. Die Leute sahen einen kleinen verwachsenen Mann mit großem kahlen Kopf, einen, der die körperlichen Makel kompensierte, indem er besonderen Wert auf Garderobe legte und selbst an heißen Tagen nicht auf Anzug und Krawatte verzichtete. Er trödelte herum, ohne sein Unbehagen loszuwerden, er kam sich unnütz vor und erklärte in einem Brief an den Freund Friedrich Grieger: »Es ist kein sehr schönes Gefühl, sich gestehen zu müssen, daß man eigentlich nur noch im Wege und lästig ist«.

Früher, im Leben vor seiner Flucht aus Deutschland, war Max Herrmann, der seinem Namen den Namen seiner schlesischen Geburtsstadt Neiße hinzugefügt hatte, ein Dichter gewesen, eine Berliner Berühmtheit sogar, Verfasser von Versbänden und luftigen, frechen, bissigen Liedern fürs Kabarett, satirischer Erzähler, Bühnenautor und Kritiker, umjubelter Star in Filmkomödien, nach mühsamer Eingewöhnung in Berlin auch finanziell so erfolgreich, dass er sich eine Wohnung in bester Gegend leisten konnte. Das Publikum liebte ihn. Die Strophen, die er schrieb, entfernten sich bald von den expressionistischen Anfängen, sie tauschten das Grelle gegen das Saloppe, sie waren verspielt, kess, voller Schärfe. Er sei kein politischer Dichter, wird Lion Feuchtwanger 1936 zu Herrmanns 50. Geburtstag schreiben, was, streng genommen, sicher stimmt, aber er war auch niemand, der bloß unterhalten und intelligent amüsieren wollte. Er hat die Gewalt gehasst und den Krieg, er attackierte Kriegsgewinnler, Chauvinisten, Monokelträger, »die Schweinekerle, die mit Bügelfalten prunken«.

Was George Grosz, sein Freund, in ätzenden Zeichnungen ausdrückte, das hat er, bald verfolgt mit Anzeigen wegen Gotteslästerung und Pornografie, in Verse gefasst. Zahm, undeutlich war der liebenswürdige und so vielseitige Mann nie. Aber immer volkstümlich, melodisch, ein Dichter von schlichter Eleganz und wunderbarer Leichtigkeit.

Er verließ Deutschland gleich nach dem Reichstagsbrand. Für die Nazis, »die Mord- und Gewaltsphäre, diesen Blutgeruch«, empfand er nur Verachtung. »Ich, selber rein-arischer Deutscher«, schrieb er, »lyrischer, unexaltierter Mensch, erkläre, daß dort eine Mörder- und Verbrecherbande herrscht …, gegen die jeder zivilisierte Mensch Stellung nehmen muß.«

Er saß, bevor er zu seiner Frau nach England weiterreiste, anfangs in Zürich, nah genug der Heimat, aber den Glauben vieler, der Spuk würde bald vorübergehen, teilte er nicht. Illusionslos und tief getroffen von der Verbannung, nahm er das Exil auf sich, ein Verlorener, der sich in London wenigstens einmal in der Woche auf den Weg machte, um einen Hotelportier zu treffen, der wie er aus Schlesien stammte. Und hier, in der fremden Stadt, schrieb er nun seine ergreifendsten Gedichte, Strophen der Sehnsucht und Trauer, Verse, die immer wieder um Deutschland kreisten. »Da ist einer von den Deutschen davongelaufen«, sagt Heinrich Mann, »wozu sie ihm jeden erdenklichen Anlaß gegeben hatten. Anstatt die Deutschen zu vergessen, wie sie es verdient hätten, lebte er weiter mit ihnen, bezieht auf sie allein, was eine ganze Welt ihm fortan von Problemen aufgibt, fühlt Reue an ihrer Statt und Sehnsucht nach ihnen bis in das Unmögliche.«

Drei Jahre hat es gedauert, bis sich ein Verlag, der Oprecht-Verlag in Zürich, fand, der wenigstens einige dieser Gedichte veröffentlichte. Max Herrmann-Neiße nannte den Band, für den Thomas Mann das Vorwort beisteuerte, »Um uns die Fremde«. Gedruckt wurde er in 500 Exemplaren. Es war einer dieser ganz kurzen Augenblicke, der dem sensiblen, einsamen Dichter ein bisschen Aufmerksamkeit bescherte. Natürlich schrieb er weiter Gedichte, ohne Hoffnung freilich, sie jemals gedruckt zu sehen, er arbeitete sogar seit 1939, ganz früh am Morgen und wenn er von langen Spaziergängen durch den Hydepark zurück war, an seinem großen Roman »Unglückliche Liebe«.

Er schrieb daran bis zuletzt. Noch in der Nacht vor seinem Tod hoffte er, dem Manuskript, das inzwischen 643 Seiten umfasste, ein paar Zeilen hinzuzufügen. Es wurde nichts draus. Am 8. April 1941, tags darauf, war er tot. »Nichts«, schrieb Stefan Zweig im Nachruf, »konnte ihn einer Zeit anpassen, die er verachtete und verfluchte.« Und er rühmte die seelische Tapferkeit des Mannes, »der zerbrechlich schien vor einem Hauch des Winds und moralisch diesem furchtbarsten Orkan der Geschichte unerschütterlich standgehalten« hat »durch seinen Glauben an die dichterische Mission«.

Gleich zwei Verlage haben den Vergessenen nach Kriegsende mit ausgewählten Gedichten wieder ins Bewusstsein deutscher Leser geholt. 1946 erschien bei Oprecht, begleitet vom Aufsatz Stefan Zweigs, die Sammlung »Erinnerung und Exil« und im Berliner Aufbau-Verlag das Bändchen »Heimatfern«. Vier Jahrzehnte später dann, 1988, die epochale Edition, besorgt von Klaus Völker und veröffentlicht in der farbintensiven, faszinierenden Ausstattung durch Johannes Grützke bei Zweitausendeins: das gesamte Werk in zehn Bänden, die Lyrik, die Erzählungen und Romane (darunter das erstmals gedruckte Fragment »Unglückliche Liebe«), die Stücke, die Schriften zum Theater, zum Kabarett und zur bildenden Kunst, die Texte zu Literatur und Politik. Die Ausgabe, nur noch in Antiquariaten zu finden, soll im Januar 2012 im Verbrecher-Verlag, wieder ediert von Klaus Völker (der auch Autor einer 1991 erschienenen Bildbiografie ist) und gestaltet von Johannes Grützke, mit einer zweibändigen Sammlung der Briefe komplettiert werden.

Vorausgesetzt, es kommen 400 Subskribenten zusammen, die sich bis zum November 2011 verpflichten, die Bücher zum Subskriptionspreis zu beziehen. Verlag und Herausgeber sind zuversichtlich, dass es diese 400 Interessenten gibt. Es wäre ihm, Max Herrmann-Neiße, und uns sehr zu wünschen.

Leser, die die beiden Briefbände zum Subskriptionspreis (76 Euro) vorab bestellen möchten, wenden sich an den Verbrecher Verlag, Gneisenaustraße 2a, 10961 Berlin.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal