Organisierte Benachteiligung

Immer mehr Azubis müssen zum zentralen Unterricht weit reisen. Für manchen ist das zu teuer

  • Ingrid Jennert, epd
  • Lesedauer: 3 Min.
In manchen Berufen wird die Ausbildung immer mehr zentralisiert, weshalb die Auszubildenden immer weitere Anfahrten in Kauf nehmen müssen – auch in Baden-Württemberg. Ohne Unterstützung durch ihre Eltern könnten sie oftmals die Kosten nicht tragen. Nicht alle Eltern aber sind in der Lage oder willens, Geld zuzuschießen. Kritiker fordern, die Länder, in deren Zuständigkeit der Blockunterricht liegt, müssten die Auszubildenden mehr unterstützen.

Freiburg/Göppingen. Der Berufsschulunterricht im dualen Ausbildungssystem wird in manchen Branchen immer stärker zentralisiert. Lehrlinge im Handwerk müssen deshalb weite Anfahrten auf sich nehmen und fern von zu Hause wohnen. Bei zwölf Berufsschulwochen im Jahr fräßen die Unterkunftskosten im Jugendwohnheim oft den gesamten Jahresverdienst der Lehrlinge auf, heißt es beim Caritasverband in Freiburg (Baden-Württemberg). Der katholische Sozialverband fordert eine bessere finanzielle Unterstützung durch das Land.

Yvonne wollte Floristin werden. Die Älteste von sechs Geschwistern hatte Glück und fand eine Lehrstelle in ihrem Heimatort am Bodensee. Doch seit dem Tod des Vaters vor einem halben Jahr muss ihre Mutter allein für die Kinder sorgen. Das hatte Folgen: Yvonne musste ihre Ausbildung aus Geldmangel abbrechen. Die Kosten für die Fahrten nach Göppingen zum Blockunterricht und den Aufenthalt im Wohnheim überstiegen ihr Lehrlingsgehalt von etwa 300 Euro. Jetzt lernt sie Friseurin: Die Berufsschule ist von zu Hause erreichbar.

550 Einrichtungen des Jugendwohnens gibt es bundesweit. Dort finden Jugendliche zwischen 14 und 27 Jahren Unterkunft, werden verpflegt und sozialpädagogisch betreut. Jedes Jahr kommen etwa 200 000 in den Heimen unter.

Fahrten bis nach Köln

Ingrid Ziller, Leiterin des Jugendwohnheims St. Georg in Göppingen, ist höchst unzufrieden mit der Situation ihrer jungen Gäste, die Floristin, Gärtner, Gartenbaufachwerker oder Hauswirtschafterin werden wollen. »Die Berufsschüler kommen aus ganz Baden-Württemberg, weil der Blockunterricht für diese Berufssparten überregional in Göppingen stattfindet.« Das ist kein Einzelfall: »Blockunterricht-Tourismus« wird auch von Gebäudereinigern (Reutlingen) oder Dachdeckern (Karlsruhe) verlangt. Optiker und Glaser müssen gar nach Reinbach in der Nähe von Köln reisen.

Überall plagen die jungen Leuten die gleichen Sorgen: Ohne Unterstützung durch ihre Eltern könnten sie die Kosten nicht tragen, berichtet die Heimleiterin. Nicht alle Eltern aber seien in der Lage oder willens, Geld zuzuschießen. Deshalb komme es immer wieder vor, dass Jugendliche ihre Ausbildung abbrechen müssten.

Im Schnitt müsse ein Auszubildender pro Tag im Blockunterricht 25 Euro bezahlen, der Landeszuschuss von sechs Euro pro Nacht in Baden-Württemberg sei da sogar schon eingerechnet, sagt Bernadette Rupprecht, Referentin für Jugendwohnen beim Caritasverband und Vorstandsmitglied der Landesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugend Sozialarbeit (LAG-KJS). Dazu kämen noch die Fahrtkosten.

Matthias von Schlichtkrull-Guse, Leiter von »Auswärts-Zuhause«, einer Initiative des Jugendwohnens in Deutschland in Trägerschaft des Verbandes der Kolpinghäuser, spricht von »Bildungsbenachteiligung« jener jungen Menschen, die sich für Ausbildungen mit zentralisiertem Unterricht entscheiden. Die Bundesländer, in deren Zuständigkeit der Blockunterricht liegt, müssten die Auszubildenden mehr unterstützen, wenn die Kosten für die verpflichtende Teilnahme nicht anderweitig von den Innungen oder den Betrieben übernommen würden, fordert Schlichtkrull-Guse.

Tatsächlich liege der Tagessatz der Einrichtungen des Jugendwohnens mit bis zu 45 Euro noch deutlich höher, ergänzt Rupprecht. Berechnet würden jedoch nur 33 Euro täglich, um das Budget der Berufsanfänger nicht noch mehr zu strapazieren.

Ausnahme Bayern

Nur das Bundesland Bayern kommt derzeit für die Wohnkosten im Blockunterricht auf. Baden-Württemberg will laut Koalitionsvertrag das Finanzmodell des Jugendwohnens überprüfen. Schlichtkrull-Guse klagt: »Immer mehr Bundesländer ziehen sich bei der Ausbildungsförderung zurück.« Überdies wolle die Bundesregierung die Notwendigkeit einer pädagogischen Begleitung in Wohnheimen aus dem Sozialgesetzbuch streichen.

Ein solcher Schritt bliebe wohl nicht ohne Folgen: In einer Umfrage räumten 35 Prozent der Azubis ein, dass sie ihre Ausbildung abgebrochen hätten, wenn sie nicht im Jugendwohnheim unterstützt worden wären.

Informationen zum »Jugendwohnen« und eine Liste der Wohnheime finden sich im Internet unter: www.auswaerts-zuhause.de

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