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»Poesiealbum« – Renaissance eines Kleinods

  • Lesedauer: 3 Min.

Wilhelmshorst im Märkischen. Der Ort hat einen traurig mythischen Klang: Hier lebte der Dichter Peter Huchel (1903 – 1981) gleichsam im SED-verordneten Exil. Wie unter Hausarrest. In die Wüste geschickt: wahrlich genug Sand rundum. Als Chefredakteur von »Sinn und Form« unter die mürbenden Instrumente der sozialistisch-realistischen Zensur geraten, existierte er hier in jener Einsamkeit, die überhaupt sein Leben prägte. Zynische Logik: So sorgte die DDR dafür, dass Dichter sich treu bleiben mussten.

Dichtung zu Dichtung. Der Märkische Verlag Wilhelmshorst ist nun Sach-, nein Seelenwalter eines Großwerkes: Richard Pietraß gibt weiterführend die Reihe »Poesiealbum« heraus, von 1967 bis 1990 Brillant des Verlages Neues Leben und eine der bedeutenden deutschen Gedicht-Editionen (Reihengestaltung: Peter Nagengast). Pietraß war bereits von 1977 bis 1979 Herausgeber. Pro Jahr erscheinen nun 6 Hefte.

Die Reihe war in der DDR Kult. Es erschienen 275 Hefte und 15 Sonderausgaben. Man kaufte, sammelte, war in Erwartung, von Monat zu Monat schöne Nachrichten von der weiten Welt der tieferen Empfindung, des schwingenden Appells, des luftigen Liedes, der aufrührerischen Hymne, des gereimten Prinzips Zuversicht, der sinnenden Klage, des leisen Schreis, der stolz bleibenden Klage, des freundlichen Eingedenkens und des zornigen Aufrufs. In der Mitte der 32 Seiten eine Doppelseite Grafik: eine gediegene Galerie des optischen Experiments, das Gedichte nicht illuminierte, sondern einen jeweils sehr eigenen Ausdruck von Lebensbefinden gab.

Die Reihe wollte nichts Geringeres als das Ganze: Die gesamte Weltliteratur der Zeiten war ihr Behuf ebenso wie die Förderung junger Poeten, denen das Gedicht ebenfalls alles war: naives Bekenntnis zum bestehenden Leben, vorsichtig tastende Kritik, erste Weisheit von bleibendem Existenzschmerz; ein farbiger Märchenteppich der unbekümmerten Träume, durchsetzt mit dunklen Flecken kummervoller Erfahrung – Klassik hatte Raum wie die Poetenbewegung der FDJ. Die Herausgeber waren Meister ehrlicher Balance.

»Poesiealbum« widerspiegelte das hohe Niveau einer wahrlichen Volks-Kunst, nämlich pro Monat für 90 Pfennig (!) Poesie der Welt und des Landes zu bieten – zugleich wurde die Anthologie freilich auch Spiegel einer zähen, zehrenden Konflikt-Beständigkeit zwischen herausgeberischem Freiheitsdrang und kulturpolitischen Drahtverhauen. Der Dichter Bernd Jentzsch als Auswählender begründete den Ruhm des Projekts, und er, der später Ausreisende, steht auch für das Scheitern eines mutigen Versuchs geistiger Grenzenlosigkeit ausgerechnet im Verlag der Jugendorganisation FDJ.

Nur noch wenige Hefte und die Zahl 300 ist erreicht. Peter Huchel übrigens war die 277. Ausgabe der Reihe gewidmet, ganz in Gelb gehalten wie der Sand, der ihn einst hielt, umlagerte. Über Nelly Sachs (Ausgabe 287) schrieb Paul Celan: »Falsche Sterne überfliegen uns – gewiss, aber das Staubkorn, durchschmerzt von der Stimme der Nelly Sachs, beschreibt die unendliche Bahn«. Jedes Gedicht ist so ein Staubkorn; zu dem, was die unendliche Bahn der Poesie bildet, gehören auch die feinen Bändchen des hoffentlich endlos fortzuschreibenden »Poesiealbums«. Hans-Dieter Schütt

Poesiealbum. Märkischer Verlag Wilhelmshorst. Heft 4 Euro (plus Porto 0,60 Euro), Abo: 20 Euro (incl. Porto). Bestellung: bestellung@poesiealbum-online.de

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