»Schöner Morgen, mieser Tag«
Am Anfang einer Wahrheit steht, dass sie verboten ist. Sowjetsoldaten, ab 22. Juni 1941 in den mörderischsten aller Kriege gezwungen, war es streng untersagt, Tagebuch zu führen. Jewgeni Chaldej (1917 bis 1997) hat sich darüber hinweggesetzt. Er schrieb bis April 1943 Kriegstagebuch, nun ist es ein erregendes Buch geworden – in Kombination mit zahlreichen seiner Fotos, die bis zum Nürnberger Kriegsverbrecherprozess führen, entstand ein bedrängender Bild-Text-Roman bitterster Wahrhaftigkeit.
Das Geschriebene wurde erst im Nachlass des Fotografen entdeckt, sein weltberühmtes Bildwerk gehört inzwischen zum nationalen Kulturerbe Russlands. Diese Aufnahmen Chaldejs bündeln auf herzfassende Weise die Paradoxien der Kriegsfotografie: Der Nennwert des Gesehenen wird gesteigert durch Ästhetik – die noch im schockierendsten Anlass eine Bedrängungskraft behält, eine Bannmagie ausstrahlt. So kommt es, dass wir anschauen, was wir doch im Grunde nicht sehen, seelisch nicht verkraften können. Dass wir hinschauen, wo wir uns abwenden wollen. Vom Grausamsten geht ein Reiz aus, dem wir uns verweigern wollen, dem wir aber nachgeben. Der dann gnadenlos in uns wühlt – und die Betrachtung löst jenen läuternden Reflex aus, der alle sonstige Sorge, allen vielfältigen Unmut über die gegenwärtige Welt unter dem Hammer eines absoluten Hauptsatzes zerkleinert: Nie wieder Krieg!, niemals so etwas erleben müssen!
»Ein schöner Morgen und ein mieser Tag«, so Chaldey zum 22. Juni 1941. Vier unfassbar leidvolle Jahre wird es dauern, bis er der Welt sein berühmtestes Foto ins Gedächtnis gibt: das Hissen der Sowjetfahne auf Berlins Reichstag. Hans-Dieter Schütt
Jewgeni Chaldej: Kriegstagebuch. Hg. von Ernst Volland und Heinz Krimmer. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2011. 223 S., geb., 24,95 Euro.
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