nd-aktuell.de / 20.06.2011 / Kultur / Seite 16

Eng mit Göttlichem verwoben

Im Buch »Neun Leben« entführt William Dalrymple den Leser ins Herz Indiens

Antje Stiebitz

Die Zahl Neun symbolisiert im Hinduismus wachsende Weisheit. Vielleicht hat William Dalrymple deshalb den Titel »Neun Leben« für sein Buch gewählt. Neun Bewohner des indischen Subkontinents suchen und finden Erkenntnis, Erfüllung. Ihre Wege sind denkbar unterschiedlich, muten mitunter merkwürdig, doch immer faszinierend an.

Der Schotte Dalrymple ist ein Indienkenner. Über zwanzig Jahre lebt er bereits als Außenkorrespondent und Schriftsteller in der Nähe von Neu-Delhi. Seinen Gesprächspartnern begegnet er so unvoreingenommen und respektvoll, dass diese ihm erstaunliche Einblicke in ihr Leben und ihre Vorstellungswelten gewähren. Seine Texte – eine Mischung aus Reisebericht, Oral History, Reportage und Ethnologie – informativ und unterhaltsam. Neun charmante menschliche Porträts. Leben eng verwoben mit Göttlichem.

Eine Nonne, einer der ältesten und beinahe atheistischen Religionen der Welt angehörig: dem Jainismus. Bereits mit 14 Jahren verschreibt sie sich, gegen den Willen der Eltern, der totalen Weltentsagung und macht sich auf die Wanderschaft. Ihr Streben nach Freiheit verlangt von ihr Bindungslosigkeit. Dalrymple nimmt an ihren Ritualen teil, beobachtet einfühlsam. Lässt ihr unerbittliches Streben nach spiritueller Erlösung und ihre Melancholie erkennen.

Vom Bundesstaat Karnataka in den Süden nach Kerala: Hier gibt sich der Theyyam-Tänzer Hari Das einmal im Jahr der göttlichen Trance hin. Im Tanz spiegeln sich Göttlichkeit, Kastenkonflikte, Machtmissbrauch, Protest. Mythen, die gesellschaftliche Verhältnisse auf den Kopf stellen. Für drei Monate im Jahr, in der Theyyam-Saison, wird der Unberührbare Hari Das zu einem Gott, vor dem sich die Brahmanen verneigen.

Dalrymples Protagonisten bewegen sich in uralten Traditionen. Und doch blitzen Moderne und Globalisierung durchs Ewige – und verändern es. Der Epensänger Mohan Bhopa aus dem Wüstenstaat Rajasthan trägt zahllose Verse zu Ehren des Helden Pabuji im Kopf. Verse, die auf 626 Seiten Papier Platz finden. Nur Bhopa hat sie nie geschrieben gesehen, sondern schon als Kind auswendig gelernt. Seine göttlichen Rezitationen bieten Zuhörern Mythos und Heilung zugleich. Doch Alphabetisierung und Fernsehen verdrängen seine Kunst allmählich. Auch dem südindischen Bronzegießer Srikanda macht das Computerzeitalter zu schaffen. Seit 23 Generationen stellt seine Familie bronzene Götter- und Göttinnenskulpturen her. Bis zu den berühmten Bronzegießern der Chola-Dynastie – die Südindien bis zum 13. Jahrhundert beherrschten – reicht seine Familientradition. Doch sein Sohn hat Informatik studiert. »Mein Sohn sagt, dies ist das Zeitalter des Computers«, erklärt Srikanda. Und er könne ihm ja schlecht entgegnen, dass sie im Zeitalter der Bronzegießer lebten.

Das Spannungsfeld zwischen Orthodoxie und Mystik entfaltet Dalrymple durch die unangepasste Mystikerin Lal Peri. Im Schrein des Sufis Lal Shahbaz – im pakistanischen Landstrich Sindh – hat sie ihr Zuhause gefunden. Doch die sufistische Lebensweise ist der puritanischen Strenge der Orthodoxen ein Dorn im Auge. Der junge Brahmane Dev Kumar gerät in einen ähnlichen Konflikt. Er wird von seiner Familie verstoßen, als er entscheidet, sich den bengalischen Baul anzuschließen. Die Baul widersetzen sich dem Kastendenken der bengalischen Gesellschaft und drücken ihre mystischen Lehren vor allem durch ihre Lieder aus.

Authentische und ergreifende Geschichten über unterschiedlichste Glaubensrichtungen – tiefe Einblicke in die Seele Indiens. Dalrymples Buch stand monatelang auf Platz 1 der indischen Bestsellerlisten.

William Dalrymple. Neun Leben. Unterwegs ins Herz Indiens. Berlin Verlag. 303 S., geb., 24 €.