nd-aktuell.de / 21.06.2011 / Gesund leben / Seite 17

Mehr Kinder bekommen Ritalin

Wirkstoff Methylphenidat kann auch Erwachsenen verordnet werden

Ulrike Henning
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) lautet die Bezeichnung einer Krankheit, die Eltern, Lehrer, Kinderärzte und -psychiater immer stärker beschäftigt. Nicht zu vergessen die betroffenen Kinder selbst, die in vielen Fällen ihren Alltag nur schwer bewältigen können.

Der Techniker Krankenkasse zufolge stieg die Zahl der Sechs- bis 18-Jährigen, die auf Rezept Präparate mit Methylphenidat erhalten, von 2006 bis 2009 um 32 Prozent. Der Wirkstoff, häufig als Ritalin verschrieben, hat einen umstrittenen Ruf. Gegner kritisieren, dass Kinder damit ruhiggestellt werden. Für die Mediziner hingegen ist das Mittel ein Glücksfall: Es wirkt in einer halben Stunde, nach vier Stunden aber ist die Wirkung wieder abgeklungen.

Im Frühjahr wurde nun ein Methylphenidat-Präparat für Erwachsene – »Medikinet adult« – zugelassen. Der Hersteller Medice aus Iserlohn gibt an, dass ADHS bei der Hälfte der Patienten über das 18. Lebensjahr hinaus fortbesteht. Das wären 250 000 Betroffene in Deutschland. Johannes Thome, leitender Psychiater an der Rostocker Universitätsklinik, erklärte anlässlich des 3. ADHS-Weltkongresses in Berlin, dass die Störung bei Erwachsenen bis in die 90er Jahre nicht diagnostiziert wurde. Nicht alle Fälle seien therapiebedürftig und die Symptome »wüchsen« sich in bestimmtem Maße »aus«. Manche Menschen lernten auch, mit ADHS umzugehen. Häufig verliere sich der hyperkinetische Effekt, während Impulsivität und Konzentrationsdefizite blieben.

Nun sind Wissenschaftler und Ärzte auf der Suche nach Patientenuntergruppen. So gebe es teils gut ausgebildete Akademiker, denen mit einer Kombination aus Verhaltenstherapie und dem bisher außerhalb der Zulassung (off-label) verschriebenen Methylphenidat gut geholfen werden könne. Andere Patienten wären mit ihren Problemen sozial häufig schon mehrfach gescheitert.

Zu den betroffenen Erwachsenen gehört eine Gruppe, die den Ärzten auffiel, wenn sie ADHS-Kinder behandelten: Besonders häufig zeigen allein erziehende Mütter dieser Kinder die gleiche Störung. Diesen hilft ein Elterntraining, mit dem sie lernen, ihren Kindern Strukturen vorzugeben, offenbar nur dann, wenn sie selbst behandelt werden. Das muss nicht mit Medikamenten erfolgen, was aber ohnehin bisher schwierig war. »Methylphenidat gab es bisher für Erwachsene nur, wenn sie es sich leisten konnten, auf Privatrezept«, kritisiert Myriam Menter von der Selbsthilfeorganisation »ADHS Deutschland e.V.«.

Die jetzt erweiterte Zulassung bedeutet jedoch keineswegs freie Bahn für immer mehr Verschreibungen. Erst Ende vorigen Jahres hatte der Gemeinsame Bundesausschuss die Arzneimittelrichtlinie verschärft. Fachärzte müssen die Kinder jetzt begutachten und auch verhaltenstherapeutisch behandeln. Außerdem dürfen nur Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Heranwachsenden Methylphenidat verschreiben. Der Psychiater Thome weist darauf hin, dass schon nach einem halben bis einem Jahr der Medikamenteneinnahme positive Effekte bemerkbar wären. Außerdem gebe es für Kinder regelmäßige Einnahmepausen.

Nicht nur mit Ritalin kann ADHS-Kindern geholfen werden. Es seien vernünftige Klassengrößen gewünscht, so Myriam Menter, und gern auch zwei Lehrer. Für betroffene Kinder können zu viele Gruppenaktivitäten schon eine Herausforderung sein. Kommen dann noch chaotische Zustände im Elternhaus hinzu, haben sie es noch schwerer, in der Schule oder in einem Freundeskreis zu bestehen.

Fachärzte fordern immer wieder, ADHS genau von anderen Störungen abzugrenzen. Auszuschließen seien asoziale Persönlichkeitsstörungen, andere psychische Erkrankungen oder gravierende Probleme der Eltern – etwa durch Alkoholmissbrauch.