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»Noch Fragen?«

Leonard Bernsteins Oper »Candide« in Berlin

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.
Marionetten sind besser als Menschen. Oder schlechter? Leonardo Capalbo als Candide
Marionetten sind besser als Menschen. Oder schlechter? Leonardo Capalbo als Candide

Komik, Tragik – wenn das eine nicht kippt in das andere und zurück, so ist wenig geschehen, fängt der Geist zu gähnen an. In »Candide« (nach Voltaire) kippt es fast unaufhörlich. Am Text haben außer dem Komponisten Leonard Bernstein noch andere Autoren mitgeschrieben. Auch die Musik dieser »Comic Operetta« in zwei Akten (in der Scottish-Opera-Version von 1989) muss dauernd wanken wie der Seemann auf den Planken.

Schon der Anfang ist dialektisch komisch, denn das Tragische liegt in der Luft. Aus der Unterweisung des Lehrers Pangloss über den allseits positiven Zustand der Welt schweben die lieblichsten Träume in die Ohren der gelehrig lauschenden Jugend. Mit do-re-mit-fa beginnt die Oper. Diatonik also, die Schritt um Schritt unterlaufen wird, mehr oder minder, um sich wieder aufzurappeln und abermals hinzustürzen. Längst nicht immer konsequent, weil Bernsteins kompositorisches Material das nicht erlaubt. In »Candide« jedenfalls ticken die philosophischen Uhren in unregelmäßigen Takten. Wohin die Blicke gehen, der Schein trügt. Da kommt niemand angehetzt, blutig und irr mit klapperndem Degen. Abwesend auch der verschlagen-galante Fürst, der statt des Knicks Fußtritte verdiente, welche Monsieur Voltaire seinem Intimfeind (nicht in jedem Fall) am liebsten verpasst hätte. Eingeübte Posen herrschen. Standbilder. Helle, frühlingshafte Gesichter blinken anfangs wie welche von Püppchen. Liebreiz der Farben allseits, worin schon die Gewitter nahen. Ein Bildertheater, wie es Bob Wilson nicht besser kann (Bühnenbild: Vincent Lemaire).

Die Idylle wiegt sich hin, her, während die Ouvertüre behend spielt. Welt, wie sie sein soll, neugeboren, die beste, die höchste. Und die Liebe wohnt aufs Holdeste darin, die zärtlichsten Regungen der Geschlechter enthüllen sich in pinkgefärbter Luft. Aber hinten grollen schon die Kanoniere aus Westfalen. Inmitten dieser Bilderwelt wandelt das hohe Paar Candide (Leonardo Capalbo) und Cunegonde (Marian Bengtsson). Umgeben von deren Bruder Maximilian, der Kammerzofe Paquette und dem schon an ihren Röcken fummelnden Pangloss (Graham F. Valentine). Ein Hundsfott. Der ist sangeskräftig, der ist versessen aufs Geschäft mit der Illusion, der gibt den Agitator der besten aller Welten, geht über die Bretter als Mann natürlich, verrückt aufs frische Fleisch.

Bernsteins Ouvertüre, ein Gemisch aus Broadway-Music, Neoklassizismus und Operette, lässt die Herzen im Parkett höher schlagen. Ein schmeichlerischer Geschwindmarsch betört die Ohren und potenziert die Illusion. Die nachvollziehbar inspirierte Staatskapelle dirigierte der Farbige Wayne Marshall.

Es kommt wie es kommen muss. Die Seelen und Bilderwelten verwandeln sich in Ruinen. Jeder und jede der elf Sängerinnen und Sänger ist nach zweieinhalb Sunden Oper nicht mehr derselbe. – Was ist das, eine Glastür inmitten? Eingang? Ausgang? Lass, wer hier austritt, alle Hoffnung fahren. Das Utopia des Beginns hat ein gefährliches Hinterland. Auf der Empore der Rückwand siedeln die Soldaten. Siebenjähriger Krieg ist. Der Chor gibt kommentarisch das Europa der Großmächte und des Kriegselends. Teils scharfer Wind singt sich aus.

Der Chor (Einstudierung Eberhard Friedrich und Frank Flade) ist das Flammendste, Eindringlichste, am genauesten Komponierte, was die Oper hat. Ohne die Chorpartien wäre das Ganze nichtig. Das Sängerensemble ist Widerpart, Verstärker, es singt und figuriert schnörkellos, unsentimental, meist rau, verschlagen, wütend, auch enorm hoch und im forte fortissimo. Wirklich das Beste.

Dem nicht nach stehen einige Arien, voran solche von großer, komischer Pose. Als im zweiten Akt die Mühlräder der Langeweile drehen (»Ruhe«-Szene), singt die Alte Frau (The Old Lady: Anja Silja), Gespielin des hohen Paares, ihren Part so fatal gleichförmig, im Unterton so schnöde und bissig, wie das nur die Satire kennt. Bernstein stimmt dazu den Song-Tonfall eines Kurt Weill an, bereichert durch die Kristalle seiner eigenen Tonsprache. Das lässt sich ungeheuer hören.

Die Inszenierung Vincent Boussards, erstrangiges Talent im Bildermusiktheatermachen, setzt auf die Eleganz und Steifheit der Marionette. An sich ist die Welt schön, zugleich eckig, vielkantig, voller Schründe und Schrecken. Marionetten sind besser als Menschen. Oder schlechter?

Die Szene in Venedig mit den fünf entthronten Königen, Höhepunkt des Niedergangs der auseinandergetriebenen Protagonisten, deren Liebe sich nicht erfüllen will und deren Illusion sämtlich verraucht ist, gibt maskierte Patienten auf Betten, die ihr hässlich Lied singen. Allesamt lebende Marionetten, Leichname. Voltaire, der Aufklärer, Feind der Willkür des Adels, will am Ende Gutes, und die Oper auch, was sie nicht verbessert.

Cunegonde ist gealtert, unförmig, Candide böse enttäuscht. Das Marionettenspiel fällt zurück ins moralische Puppenspiel. Dies will verbessern, versöhnen helfen. Dass das Trostlose, Bittere des »Candide« zur Hoffnung hinstrebt? Etwas lehrhaft ist das schon. Die Enttäuschten entscheiden sich, als kleine Gemüsebauern an der Peripherie der zivilisatorischen Wildheit redlich zu arbeiten. Am Schluss die entzückende Formel: »Noch Fragen?«

Nächste Vorstellung: 30.6.

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