Die Zerreißung, das ist das Kreuz

»Im Raum der Stille: Lektüren« – Essays von George Steiner

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Nur keine Rezension!, meint George Steiner. Rezensionen unterstützen die Faulheit der Kulturredakteure, denn es fehle nie an Nachschub – Rezensionen schreibe schließlich beinah jeder, und die gedankliche, sprachliche Kunst dieser inflationären Nachberichte halte sich erfahrungsgemäß und mehrheitlich sehr im Bereich des Mäßigen.

Steiner, 1929 in Paris geboren, Philosoph, lange Literaturprofessor in Oxford, schreibt – Essays. Vorzugsweise für den »New Yorker« verfasste er Aufsätze über Künstler und Intellektuelle des 20. Jahrhunderts. Man liest seinen Text übers Schachspiel und ahnt die Kühnheit, die er sich vom Essay wünscht: etwas Geistiges gegen die Welt zu bauen, »Formen zu ersinnen«, die den Schiedsspruch der Wirklichkeit ablehnen, die sich im »immateriellen Wunder des Spiels« allen Autoritäten des Realen entziehen. Es geht schreibend um den Spürsinn »für die Verkettung augenscheinlich disparater Umstände«, wie es im Essay über Walter Benjamin und Gershom Scholem heißt; der Essayist hat zwischen Fakten und wieder Fakten die tiefe Fühlung zum verborgenen Schlüsseldokument, er »erspäht den gestohlenen Brief«, wo der gewöhnliche Rezensent »nur die Tapete anstarrt«.

Siebzehn Porträts nun in einem Band. Poeten und Denker und politische Figuren (u.a. Russell, Blunt, Karl Kraus, Canetti, Simone Weil, Lévi-Strauss, Broch, Speer) spiegeln jenes vergangene Jahrhundert als Ära gattungspolitischer Entscheidungen, die den Menschen ins Maßlose führten, über eine gefährliche Grenze hinweg, hinter der dann nichts akuter wurde als die Rückkehr zur Selbstzähmung.

Jener moralische Auswuchs des Totalitären, nämlich: sich sogar unter Mörder mischen zu sollen oder zu müssen, um Humanist zu bleiben, wird in den Aufsätzen Steiners zum Zentrum einer ewig tragischen Geschichte – vom Menschen, der nichts weiß, aber alles zu vollbringen sucht. Tragisch, ja, vor allem aber: ewig. Denn Steiners Lektüren, über die er schreibt, bekräftigen doch zugleich trotzig und lustvoll die Kraft des unruhig bleibenden Geistes. Klar ist am Ende: Wer aus Erfahrung und Enttäuschung über jenes Jahrhundert nun vorsichtig und geduckt wird im Denken, der erlebt auch nur wieder einen Verschleiß an allen Fronten. Die tolle Fähigkeit des Menschen liegt weiterhin in seiner Unmöglichkeit, jenes Nichts, das hinter allem so gewiss ist, je auszuschöpfen.

Den Text über Brecht (»B.B.«) beginnt er böse mit dem Schritt östlicher Völker 1989 in die Freiheit: »Warum vom Brot allein leben, wenn es Erdnussbutter gibt? Warum als sowjetische Satellitenstaaten leiden, wenn das Wort ›Satellit‹ auch Kabelfernsehen meint? … Im Supermarkt ist Goethe ein Verlustgeschäft.« Der marxistische Traum habe sich zwar zum unverzeihlichen Albtraum gewandelt, »unausweichlich scheinen kollektive, sozialistische Ideale zu der einen oder anderen Form des Gulags zu führen«, aber die ersehnte neue Freiheit des Westens verstärke nur, nicht minder verderblich, »das Gebrüll des Geldes« – und in dieser Unannehmbarkeit quasi aller Ordnungen sei Brechts Werk gewachsen, »die listige Gangart, der Witz aus dem Mundwinkel, der Panzer des angespannten, das eigene Überleben sichernden Seiltänzers«; ein Werk, darin aufleuchtet »ein satirischer, analytischer Kommunismus, weit entfernt von stalinistischer Orthodoxie und den schlichten Bedürfnissen des Proletariats und der linken Intelligenzija im Westen«.

Steiner porträtiert auch Arthur Koestler (»La Morthe d'Arthur«), den Romancier und Renegaten, der aus dem Bürgertum zu den Kommunisten floh, von den Kommunisten in die befreiende, transzendental befeuerte Einsamkeit. Als man ihm bestätigte, dass sowjetische Verfolgungslisten ihn sehr weit oben führten, »erschien er mir«, so Steiner, »vorübergehend, im Einklang mit sich selbst«. Exil und Gefängnis, Scheidung und tyrannischer Trost des Alkohols – »Koestlers Ausweise, echte oder gefälschte, seine Adress- und Notizbücher sind Teil der Routen aller Verfolgten«. Der Schriftsteller habe sich genau auf jenem Terrain befunden, »auf dem die Nervenenden« der Jahrhundert-Extreme sich berührten, »ihre zugleich bitteren und stärkenden Ströme durchquerten ihn«. Dieser Essay auch als brillant dunkle Reise in die Würde eines selbstbewussten Sterbens.

Im Versuch über Paul Celan (»Nördlich der Zukunft«) bezwingt die Intensität, mit der Steiner, quasi weiterbohrend im Auftrag des unglücklichen Dichters, nach der Abwesenheit Gottes in den deutschen Todeslagern fragt. Celan sei »auf selbstzerfleischende Weise« von der Einsicht besessen gewesen, sein eigener Genius habe leider dazu beigetragen, jenes Schweigen zu verneinen, das dem Holocaust doch unbedingt hätte folgen müssen. Eigentlich wäre damals, nach Auschwitz, in allem Weiterreden nur die Nichtigkeit das Gemäße gewesen, »aber aus den Tiefen von Celans zornigem Kummer stieg unbestreitbar der Gegenpart schöpferischer Meisterschaft«.

Der Dichter konnte daran nicht glücklich werden. Immer stehen Selbststeigerung und Selbstzerstörung nahezu zeitgleich im Menschen auf. So kommt wahre Heimat auf uns zu: Aufenthalt im unablässig Unheimlichen, das wir heraufbeschwören just mit Plänen, es für immer zu beseitigen.

Im Kapitel über Hitlers Architekten Albert Speer (»Aus dem Totenhaus«) polemisiert Steiner gegen rationalistische Geschichtsschreiber, die sich mühten, »einen ›normalen‹ ökonomisch-strategischen Rahmen für Hitlers Aufstieg zu finden«. Speer sei in seinen Aufzeichnungen viel näher an der Wahrheit. Das Phänomen Hitler, sein »giftiger Zauber«, sei nur mit »zentralem Antisemitismus« zu fassen. »Auf eine dunkle Art und Weise sah Hitler in der messianischen Geschlossenheit des jüdischen Volkes, in seiner Absonderung, in der Metapher seiner ›Aus-

erwähltheit‹ ein gleichbleibend spöttisches Gegenstück zu dem, was ihn selbst im Inneren antrieb«. Steiner: Im Hinblick »auf den Gulag, die sowjetischen psychiatrischen Strafanstalten, die chilenischen Gefängnisse und die unsäglichen Todescamps in Indonesien war Speer nur einer in der Reihe von Baumeistern – wenn auch vielleicht der am härtesten bestrafte. Die Architektur des Todes gedeiht weiterhin.«

Essayistik ist Lagebesprechung nach den Maßgaben des philosophischen Versuchs. Im Text über Bertrand Russell denkt Steiner über einen Menschen nach, der »die einleuchtende Darstellung einer möglichen Wahrheit mehr liebte als menschliche Wesen«. Im Aufsatz über Simone Weil (»Schwarzer Freitag«) treibt ihn die Grenze um, bis an welche das Denken vorstoßen darf, muss. Die französische Jüdin, die ihre Wurzeln hasste, »die ihren Körper bewohnte wie einen baufälligen Schuppen«, sagt: »Der bis auf den Grund des eigenen Seins erlittene Widerspruch, das ist die Zerreißung, das ist das Kreuz.« Denken als absolute Radikalität, bei der Vernunft sich selber an den Hals geht und sogar »der Trost gegenseitiger Liebe« bewusst in Gefahr gebracht wird. Nichts ohne Gegenfrage; Waschung stets in sehr dunklen Wassern. Die Ehre des philosophischen Handwerks besteht in der »Losgelöstheit, der Unparteilichkeit, darin, sich praktischer Ausbeute zu enthalten.« Somit ist die philosophische Haltung wahrlich: »welt-fremd«. Sich an Schmerzgrenzen des Gewünschten hindenken und es hart fragend in die Krise bringen. Wofür? Um sich der wahren Lage klar zu sein: Leben »auf einem verrohten, verwüsteten Planeten«.

»Eine Ader des Wahns wird hier angezapft.« Was Steiner über Weil schreibt, streift die Porträts überhaupt: Es sind Besessenheitspsychogramme. Viel ist von Marxismus die Rede, seinem Reiz, seinem Ruin, und von der jüdisch-messianischen Variation bei der Besetzung einer jahrtausendealten Hoffnung. Steiner gräbt sich an den Hochburgen und Abgründen moderner Gedankenwelten entlang, er wühlt nach Sonnen im Schlamm des Scheiterns. Dies in einer packenden Sprache, die den Leser nicht im sanftesten Tal seines Gemüts abholt, ihm nicht Verstehens-Seufzer wie Kissen vorausschickt, damit der Autor-Gedanke nur ja weich ankomme. Nein, Steiner reißt mit, er reißt auf, im Raum der Stille donnert die Welt, die Maßverhältnisse des lautemperaturigen Bedenkens sind gesprengt; »das Gehirn eine leuchtende Klinge«.

Das klingt lebensgefährlich, und Lesen müsste dies, wie Schreiben, auch sein: nämlich das Leben, wie es ist, gefährden – im Auftrag des Lebens, wie es sein könnte. Und das dann trotzdem nicht minder lebensgefährlich bliebe. Kampf, Kampf, Kampf.

Daher ist der Schluss des Buches so grandios hoffnungsreich (oder ironisch). »Königstode. Über Schach«. Steiner träumt von einem unerreichbaren Meister, der aber eines Tages vom Brett aufschaut, und: Er »wird mich nicht mehr wie einen namenlosen Patzer, sondern wie einen Mitmenschen ansehen und mit unbewegter, leiser Stimme ›Remis‹ anbieten.« Neuer, weiterer Raum der Stille: Frieden.

George Steiner: Im Raum der Stille: Lektüren. Aus dem Englischen von Nicolaus Bornhorn. Suhrkamp Verlag Berlin. 272 S., geb., 22,90 €.

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