Mit und ohne Hausbesuch

Wie weltliche Trauerredner mit Worten des Abschieds helfen wollen

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 8 Min.
Dr. Wolfgang Fleischer in der Kapelle.
Dr. Wolfgang Fleischer in der Kapelle.

Wenn der Vorstand des Fachverbandes für weltliche Bestattungs- und Trauerkultur zu einer Sitzung zusammentritt, dann gibt es eine Tagesordnung. Dann wird Protokoll geführt! Das zeigt, dass es sich bei der Profession um eine ernste Sache handelt, die sich selbst gebührend ernst nimmt. Die sie ausüben, sind die, die die Sache zu Ende bringen – ernsthaft wie auch ordentlich. Das erwartet man von ihnen, und das liefern sie zuverlässig.

Die Damen und Herren sind selbst nicht mehr jung. Das Ende sitzt quasi mit am Tisch. Angesichts ihrer Aufgaben finden sie es jedoch angemessen, lieber von Lebenserfahrung zu sprechen. Die muss nicht zwingend bitter sein, ist aber in ihrem Fall bitter nötig. Darin stimmen sie überein.

Die meiste Lebenserfahrung im Kreis kann mit 77 Jahren der Berliner Journalist Klaus Westendorf vorweisen. Es folgt mit 74 Jahren der Diplom-Chemiker Wolfgang Fleischer. Sodann reiht sich mit 72 der Leipziger Eberhard Schneidenbach ein, von Hause aus Diplom-Ingenieurökonom. Wolfgang Stünzner, Diplom-Jurist, bringt 68 Jahre Lebenserfahrung mit. Auf 67 Jahre blickt Wolfgang Bonatz aus Brandenburg an der Havel zurück. Sigrid Holz, Diplom-Lehrerin aus Parchim, hat mit 57 Jahren bis zum Ende vermutlich noch etwas Zeit, doch genau kann man das nicht wissen. Was die Runde genau weiß, ist dies: Jeden kann es jederzeit treffen.

Sie alle waren schon in der Situation, Eltern Trost spenden zu müssen, die ein Kind verloren haben. Westendorf sagt: »Das ist ganz schrecklich. Ein kleiner weißer Sarg auf dem letzten Weg schaukelt zwischen vier starken Männern hin und her wie ein Postpaket.« Gewogen und zu leicht befunden. Ein Kind, aus dem vielleicht auch einmal ein Schwergewicht hätte werden können. Westendorf streicht sich über die Augen. »Auf einer Trauerfeier sollte man der sein, der den klaren Kopf behält. Doch da hab' ich mitgeheult.«

Tagesordnungspunkt eins ist heute für Öffentlichkeitsarbeit reserviert. Der Fachverband im Stenogramm: 1990 gegründet, Teil der freigeistigen Bewegung, agiert mittlerweile bundesweit, zählt circa 50 Mitglieder – Trauerredner, Bestatter, Trauerbegleiter. Ihr Ziel: Menschen, die einen Verlust erlitten, »in ihrem Bedürfnis nach nichtreligiöser, konfessionsfreier, würdevoller, individuell gestalteter Bestattung und Trauerfeier beizustehen«. Der Punkt könnte damit abgehakt sein, gäbe es nicht die Fußnoten. So berichtet Sigrid Holz, die viel im ländlichen Raum unterwegs ist, dass – wer hätte das gedacht – auch überzeugte Kirchgänger ihre Dienste in Anspruch nehmen, wenn sich herumgesprochen hat, dass der Pfarrer »schlecht beerdigt. Dann sagen die Leute: Frau Holz soll reden.« Aufträge erhalten die Redner von Bestattungsunternehmen, mit denen sie zusammenarbeiten, oder direkt vom »Trauerhaus« – ein guter Ruf ist die beste Empfehlung.

Was macht die weltliche Trauerrede aus? Klaus Westendorf, der nicht allein die längste Lebenserfahrung besitzt, sondern auch Dienstältester im Verband ist, kann das mit wenigen Worten erklären: »Wir versprechen kein ewiges Leben. Der Pfarrer hat es da einfacher: Er verheißt ein Wiedersehen im Jenseits, selbst mit der bösen Schwiegermutter, auf das man nicht besonders scharf ist. So leicht machen wir es uns nicht. Für uns ist die Persönlichkeit wichtig, ihr Lebenslauf und ihre Lebensleistung. Wir trösten die Hinterbliebenen, indem wir ihnen verdeutlichen, was ihnen von ihrem Verstorbenen bleibt – dabei geht's nicht ums Sparbuch oder ums Grundstück. Es ist der Charakter, der zählt.« Der Redner kommt zum Hausbesuch. Die Familie ist versammelt: der zurückgebliebene Partner, die Kinder. Sie geben zu Protokoll, wie sie ihren Verstorbenen sehen und gewürdigt wissen wollen. Selbstlos war er, liebevoll, offenherzig, klug, belesen, engagiert für andere Menschen, manchmal gar für die ganze Menschheit, vernarrt in Berge, Apfelkuchen, Briefmarken und seine Enkel. Über Tote nichts Schlechtes, man kennt das. Was aber, wenn der Redner heraushört: Ein Glück, dass das Miststück endlich tot ist? Das komme häufiger vor, als man annimmt. Nun, für die Produktion von Engeln sind weltliche Redner nicht zuständig. Noch einmal der Senior der Gilde: »Wir pflegen, bei der Wahrheit zu bleiben. Angehörige, Freunde, Bekannte wollen den Toten wiedererkennen. Was nicht heißt, dass man ihn respektlos behandelt: Selbst ein schlechter Mensch hat seine guten Seiten. Auch die kann man in Erinnerung bringen.« An dieser Stelle wirft Frau Holz ein: »Ihr in der Großstadt habt gut reden! In der Kleinstadt, auf den Dörfern kennt man einander. Soll man für einen Menschen sprechen, von dem man nicht viel gehalten hat, muss man sich ganz schön am Riemen reißen.« Selbstverständlich hat sich Frau Holz noch immer am Riemen reißen können und keine Rede abgelehnt. Nicht nur, dass es schlecht fürs Geschäft wäre. Auch sie ist schließlich von dieser Welt, so dass ihr nicht verborgen bleibt, dass die lieben Mitmenschen einander nicht immer zugeneigt sind und dieser oder jener auch ihr vielleicht nicht nur Sympathie entgegenbringt.

Eine Rede zu verweigern, muss es gewichtige Gründe geben. Westendorf hat es nur ein Mal getan. Im Wohnzimmer des Trauerhauses, in das er gerufen worden war, hing über dem Fernseher statt eines Wandteppichs die Reichskriegsfahne. Ob er deutschnational denke, wurde er gleich zu Anfang verhört. Schnell stellte sich im Gespräch heraus, dass es sich bei dem Verblichenen um einen 19-jährigen »strammen Nazi« handelte, einen polizeibekannten Schläger. Westendorf ist daraufhin aufgestanden: »Den verscharren Se mal alleene!« »Für mich«, sagt er, »war das die Grenze.«

Da bei weltlichen Trauerfeiern Persönlichkeit und Lebensleistung der Verstorbenen die Hauptrolle spielen, kommt die Rede denn auch auf die Gesinnung. Im Osten kann das heikel sein, da die dort bis vor zwanzig Jahren vielfach herrschende Überzeugung dem heutigen Zeitgeist zuwiderläuft. Stehen Angehörige noch in Lohn und Brot, kann eine entsprechende Würdigung Konsequenzen mit sich bringen. Dennoch bestehen sie häufig darauf, wollen sie doch ihren Toten nicht mit einer Lüge verabschieden. Eberhard Schneidenbach berichtet von einer Feier auf dem Leipziger Südfriedhof. Man trug den Sohn eines Antifaschisten zu Grabe, einen ehemaligen MfS-Offizier: »Beim Ablassen der Urne wurde die ›Internationa- le‹ geblasen, es war sehr feierlich und bewegend. Plötzlich, hinter dem Gebüsch, gingen Kassettenrekorder an, von überallher plärrte laut Musik.« Was tun in solch vertrackter Lage? Mit Verweis auf die Friedhofsordnung rief Schneidenbach die Polizei. »Alle waren weg, als die kam.«

Die Mitglieder des Fachverbands verstehen sich als Dienende. Sie wollen Hinterbliebenen helfen, den Abschied zu akzeptieren und zu bewältigen. Und sie setzen sich dafür ein, dass Sterben, Tod und Trauer aus den gesellschaftlichen Sinnbezügen nicht länger ausgeklammert werden. Sigrid Holz und Klaus Westendorf, die sich schon in der DDR bei Bestattungen engagierten, wissen: »Das Bestattungswesen galt lange als das Letzte.« Westendorf erklärt sich das so: »Der Tod passte nicht zur strahlenden Zukunft. Er war ein Unfall im Sozialismus. Einerseits gab's das Staatsbegräbnis, andererseits wurde dem privaten Bestatter an der Protokollstrecke untersagt, Urnen ins Schaufenster zu stellen: Sie hätten daran erinnern können, dass es so was wie Tod und Trauer gibt. Lauter solche Albernheiten. Es war aber zwiespältig: Finanziell ließ man Hinterbliebene nicht allein. Die Gewerkschaften gaben was dazu, und Einäscherungen, weil subventioniert, waren in der DDR billig.« Heute registriert der Verbandsvorstand eine »große soziale Kälte«.

Wer glaubt, der Tod sei egalitär, der gebe sich einer Illusion hin. So, wie man gelebt habe, so werde man auch von der Welt geschafft. Die Zahl der Sozialbestattungen steige. »Es gibt wieder arme Leute«, konstatiert der Bestatter Wolfgang Bonatz, »und es werden immer mehr.« Niemand widerspricht, als er Hartz IV dafür verantwortlich macht: »Von hundert, die betroffen sind, schafft es nur einer, für den Todesfall vorzusorgen. Dann kommen die Kinder ins Spiel, die ebenfalls von Hartz IV leben: Wie bringt man Mama und Papa unter die Erde? Sterbegeld ist ja gestrichen. Der Staat muss die Kosten übernehmen. Der zahlt nur das Nötigste. Ein paar Euro für den billigsten Sarg, für Blumenschmuck, fürs Urnenreihengrab.« Er kenne auch Bestatter, so Bonatz, »die geben die Urnenkapseln nicht raus, so dass sie sich wochenlang bei ihnen stapeln, bis das Geld vom Sozialamt da ist«: »Ich kann so was nicht verantworten.«

Auf Worte des Abschieds werde heute häufig verzichtet. Schlechte Zeiten für Trauerredner. Wer von ihnen noch keine Rente bezieht, ist auf ein zweites Standbein angewiesen – Frau Holz führt ein Taxiunternehmen. Generell, erfahren wir, liege die Zahl der Sterbefälle gegenwärtig relativ niedrig. Die Leute leben heute länger. Und im Verdienst gibt es ein Gefälle: von West nach Ost, von Stadt zu Stadt, von Bestatter zu Bestatter, ob »mit oder ohne Hausbesuch«. Bei einer Sozialbestattung streichen einige Kommunen die Rede ganz, andere erstatten 60 Euro, natürlich »ohne Hausbesuch«. Für weniger Geld gibt's auch weniger? »Nicht bei uns«, versichert Wolfgang Fleischer, Vorsitzender des Fachverbands. »Wir klemmen uns dann ans Telefon, manchmal bis zu einer Stunde. Auch solche Reden füllen wir nicht mit Floskeln, denn niemand hat es verdient, von der Welt verabschiedet zu werden, als ob er nicht gelebt hätte.«

Zeit für Tagesordnungspunkt zwei. Da er unter »intern« läuft, empfehlen wir uns. Wir sind schon fast zur Tür hinaus, als wir hören, wie Sigrid Holz Wolfgang Bonatz anvertraut: »Bei mir in Parchim ist Sauregurkenzeit.« Worauf Herr Bonatz antwortet: »Bei mir in Brandenburg ist grad die Hölle los!« Was war das denn? Um Himmels willen!

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