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Theater des Lebens

Das Museum für Fotografie präsentiert eine umfassende Werkschau der Fotografin Abisag Tüllmann

  • Manuela Lintl
  • Lesedauer: 3 Min.
Stets war Tüllmann am Puls der Zeit: 1973 bei den ersten Auftritten Joschka Fischers.
Stets war Tüllmann am Puls der Zeit: 1973 bei den ersten Auftritten Joschka Fischers.

Manchmal sagt ein Bild mehr als Tausend Worte. Im Falle der Fotografien von Abisag Tüllmann (1935-1996) trifft das auf unzählige ihrer im Laufe von rund vierzig Jahren entstandenen Bilder zu. Sie hatte Alfred Hitchcock und Joseph Beuys, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Joschka Fischer und Frank Zappa, Rudi Dutschke und Alice Schwarzer vor der Linse. Aber auch zahllose Unbekannte, etwa Obdachlose, Schulkinder, sogenannte Gastarbeiter, Hausbesetzer oder Protestler postkolonialer Konflikte in Ländern Afrikas wurden von ihr abgelichtet. Die Schaffensjahre dieser beeindruckend vielfältigen Fotojournalistin, die unter anderem im Auftrag von Zeitungen und Magazinen wie Stern, Zeit, magnum und Diskus fotografierte, fallen in die späten 50er bis in die frühen 90er Jahre und sind zum Großteil als analoge Schwarz-Weiß-Bilder mit einer Leica aufgenommen worden.

1957 zog Abisag Tüllmann von Wuppertal, dem Ort ihrer Kindheit und Jugend, nach Frankfurt am Main. Das dort 1962 bezogene Wohnatelier blieb bis zu ihrem Tod 1996 ihre Wohn- und Arbeitsstätte sowie Archiv. Von hier aus zog sie durch ihre Stadt Frankfurt, später mit Claus Peymann an Theater in Stuttgart, Bochum und Wien und auf Reisen nach Algerien, Rhodesien/Simbabwe, Sambia, Namibia, Südafrika und Israel.

Abisag Tüllmann war stets dem Zeitgeist auf der Spur mit der notwendigen Intuition und einem Gespür dafür, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. So wurde sie zur Chronistin sozialer, politischer und kultureller Umwälzungen von der 68er- bis zur Frauen- und Schwulenbewegung. Sie beobachtete die neue Generation beim Erproben alternativer Lebensformen und antiautoritärer Erziehung, spürte Tendenzen aktueller Kunst auf der documenta in Kassel oder der Biennale in Venedig nach, hatte aber auch ein Auge für den Alltag von unterprivilegierten oder ausgegrenzten Schichten in Zeiten eines offiziell proklamierten Fortschrittsoptimismus, der nahtlos an die Wirtschaftswunderjahre anzuknüpfen schien.

So begegnen uns in Tüllmanns Fotografien nicht nur Porträts von Prominenten aus Politik und Kultur, vielmehr gab sie immer wieder auch den Namenlosen des Volkes ein Gesicht. Sie fotografierte Kinder in einer alternativen Schule, die mit Comics Lesen lernen oder selbstbestimmte Kollektive bilden; ihr gelangen unverklärte und berührende Momentaufnahmen von Obdachlosen, von italienischen Gastarbeitern in einer behelfsmäßigen Massenunterkunft oder von Sinti und Roma.

Das fotografische Vermächtnis von Abisag Tüllmann, angesiedelt an der Schnittstelle zwischen Bildjournalismus und Kunstfotografie, ist für die Geschichte der deutschen Fotografie von überragender Bedeutung und hat sich bereits in das kollektive Bildgedächtnis der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingeschrieben.

In nüchternen Zahlen zusammengefasst, beläuft sich ihr bildkünstlerisches Werk auf 260 000 Negative, 50 000 Schwarz-Weiß-Abzüge und 10 000 Farbdias, hinzu kommt das theaterfotografische Oeuvre mit 350 000 Negativen, 17 000 Schwarz-Weiß-Abzügen und noch mal 17 000 Farbdias. Neben der Zusammenarbeit mit Claus Peymann arbeitete Tüllmann im Auftrag von Regisseuren wie Ruth Berghaus, Luc Bondy, Andrea Breth, Einar Schleef, Peter Stein, George Tabori oder Robert Wilson.

Der Blick von Abisag Tüllmann ist sowohl im theatralischen als auch im echten Leben ein engagierter, sensibler und in die Tiefe gehender gewesen. Als unermüdlicher Chronistin gelangen ihr Aufnahmen von höchst eindringlicher Symbolkraft, die mit dem Begriff authentisch zwar treffend, aber dennoch nur ansatzweise charakterisiert werden können.

Bis 18.September, Museum für Fotografie, Jebenstr. 2, Di.-So. 10-18 Uhr, Do. 10-22 Uhr, Eintritt: 8 Euro, erm. 3 Euro, Katalog: 29,80 Euro, Hatje Cantz Verlag, ISBN: 978-7757-2708-2, Hardcover, www.smb.museum/mf

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