Marbach spektakulär: Kafka und seine Briefe an Ottla

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.

So gelöst und heiter gab sich Franz Kafka nur selten. »Liebste Ottla«, schrieb er am 7. September 1909 aus Riva, »arbeite bitte fleißig im Geschäft, damit ich ohne Sorgen es mir hier gut gehn lassen kann und grüße die lieben Eltern von mir. Dein Franz«.

Er war bester Stimmung, denn er verbrachte Urlaubstage am Gardasee, aber am vertrauten, entspannten Ton änderte sich auch nichts, wenn er später unterwegs war und seiner jüngsten Schwester Grüße schickte. Ihr gab er sich unverstellt und offen wie kaum einem anderem. »Es wird Dich doch liebe Ottla interessieren«, meinte er im Februar 1911, »daß ich in dem Hotel zum Roß auf der andern Seite einen Kalbsbraten mit Kartoffeln und Preiselbeeren gegessen und dazu und hierauf eine kleine Flasche Apfelwein getrunken habe.«

All die Karten und Briefe, die Ottla von Kafka, später auch von anderen erhielt, liegen jetzt, wegen ihrer Lichtempfindlichkeit nur mäßig beleuchtet, in zwei langen Reihen unter Glas, zu besichtigen im Literaturmuseum der Moderne. Marbach feiert mit dieser Ausstellung die spektakulärste (auch überraschendste) Neuerwerbung seit langem. Vor einem halben Jahr hat man auf der Schillerhöhe noch schweren Herzens abgewinkt, als das Berliner Auktionshaus Stargardt für April die Versteigerung eines Kafka-Konvoluts von 111 Autographen ankündigte. Schätzwert 500 000 Euro. Am Ende, so Experten, müsste man sogar mit einer Kaufsumme von mindestens 800 000 Euro rechnen.

Zu teuer, hieß es, für das Deutsche Literaturarchiv unbezahlbar. Kenner der Materie, überzeugt, dass es sich hier um eines der wichtigsten Konvolute überhaupt handelt, waren entsetzt. Hartmut Binder, der 1974 mit Klaus Wagenbach Kafkas »Briefe an Ottla und die Familie« ediert hat (die bei S. Fischer gerade wieder in einer Taschenbuchausgabe erschienen), erklärte, er sei »sprachlos«. Und Wagenbach fürchtete nicht ohne Grund, dass die Sammlung nun auseinandergerissen und jede Handschrift einzeln verkauft werden würde. Erneut (wie schon 1987, als Briefe Kafkas an seine Verlobte Felice Bauer in private Hände kamen und so der Forschung nicht mehr zur Verfügung stehen) schien ein irreparabler Verlust kaum noch abwendbar.

Dann jedoch, in buchstäblich letzter Minute, die Wende: Marbach und die Bodleian Library in Oxford, beide im Besitz der wichtigsten Kafka-Bestände, sicherten sich, von Bund, Ländern und privat unterstützt, in gemeinsamer Anstrengung die angebotenen Briefe, Postkarten, Bildpostkarten. Die Erben, froh über diesen Ausgang, gaben sogar noch weitere Schreiben dazu: 23 Briefe von Julie Kafka an ihre Kinder Franz und Ottla, drei Briefe von Kafkas Berliner Freundin Dora Diamant an Ottla sowie neun Briefe des Kafka-Arztes Robert Klopstock an Ottla.

Deponiert wird der Schatz künftig in Marbach (wo auch das vor Jahren ersteigerte Manuskript des Romans »Der Process« liegt), und man hat sich mächtig beeilt, den kostbaren Zuwachs in einer Kabinettausstellung zu zeigen. Chronologisch ausgebreitet: all die liebevollen Grüße, die Berichte und simplen Mitteilungen von unterwegs (»Ich komme Donnerstag nachmittag, 3 Uhr Staatsbahnhof wahrscheinlich«), die in wundervoll klarer, mühelos lesbarer Schrift, meist mit Tinte, manchmal, im Liegen, auch mit Bleistift verfassten Briefe und Karten, auf denen die Fläche immer voll ausgenutzt ist und die kaum mal weiße Ränder lassen. Wenn der Platz nicht reichte, hat Kafka, ständig in Raumnot, einfach auf der Bildseite weitergeschrieben.

Ottilie, genannt Ottla, 1892 geboren und damit neun Jahre jünger, war die Lieblingsschwester, die »kleine Fürsorgestelle«, seine »beste Prager Freundin«. Mit ihr hat sich Kafka schon früh ins Bad zurückgezogen, weil man nur dort ungestört reden konnte, er hat sie ermuntert, mit Ratschlägen versorgt, nur ihr hat er später anvertraut, wie er sich fühlte, was er empfunden und gegessen hatte, was die Waage über seinen verbissenen Kampf um ein bisschen Gewichtszunahme verriet oder was der Doktor über seinen Zustand äußerte. Sie mietete eine Wohnung, in die er sich für einige Zeit zum Schreiben zurückziehen konnte, sie schickte ihm Butter, kümmerte sich um seinen Urlaub bei der Prager Arbeiter-Unfallversicherung und dann auch um seine Pension.

Kein anderer aus der Familie, dieser »Lärmhölle«, hatte so viel Verständnis für ihn, seine Bedürfnisse und Empfindlichkeiten. Selbstbewusst und unbeirrbar, mitunter auch stur und exzentrisch hat Ottla allen Widerständen getrotzt. Sie setzte sich sogar, unterstützt von Kafka, gegen den Vater durch, der ihr die Ehe mit dem tschechischen Katholiken Josef David untersagen wollte. Ihre Schwestern Elli und Valli fügten sich. Beide wurden verheiratet.

Den letzten, ziemlich ausführlichen Brief an Ottla schrieb Kafka Anfang Januar 1924 in der Berliner Wohnung von Dora Diamant. »Meine Ernährung, nach der Du fragst, ist weiter glänzend und mannigfaltig«, heißt es zum Schluss. »Kochen ist so leicht, um Sylvester herum gabs keinen Spiritus, trotzdem verbrühte ich mich fast beim Essen, es war auf Kerzenstümpfen gewärmt. Alles Gute – Franz«. Ein paar Monate danach, am 3. Juni, ist er in Kierling bei Wien gestorben.

Über das weitere Schicksal Ottlas, die hier, für viele vielleicht zum ersten Mal, aus dem Schatten der Familie tritt, informiert in der Ausstellung ein knapper Text des Kafka-Forschers und -Editors Hans-Gerd Koch, der auch ihr letztes Lebenszeichen aus dem KZ beisteuerte: beruhigende, tröstende Zeilen an die beiden Töchter, dass es ihr gut gehe.

Sie ist in ihrer Ehe nicht gerade glücklich geworden. Damit Josef David wegen seiner jüdischen Frau nicht in Gefahr gerät, hat sich Ottla nach der Besetzung Prags durch deutsche Truppen von ihm getrennt und dann auch scheiden lassen. Es war ihr Todesurteil. Anfang August 1940 musste sie sich in der Sammelstelle für jüdische Transporte einfinden. Sie kam, eine gütige, gepflegte, schon weißhaarige Frau, nach Theresienstadt, sie arrangierte am 3. Juli 1943 noch eine Feier zum 60. Geburtstag Franz Kafkas, betreute Waisen ermordeter Juden aus Polen, die, verwahrlost, elend und verstört, ins Lager gebracht worden waren, und sie meldete sich freiwillig, als man diese 1260 Kinder am 5. Oktober 1943 in einer Nacht- und Nebelaktion nach Auschwitz transportierte. Gleich nach der Ankunft sind alle, Kinder und Betreuer, in der Gaskammer umgebracht worden.

Es gibt nicht viele Gelegenheiten, Kafkas Handschriften im Original zu sehen. Marbach bietet sie noch bis zum 10. September. Danach geht die Ausstellung nach Oxford. Aber da sind ja, zur Erbauung und zum Trost aller Kafka-Leser, die sich dieses Begegnungsglück bewahren möchten, zwei großformatige, opulente Bände im weißen Schuber, eine exquisite Edition des Berliner Parthas-Verlages, staunenswert schön und einmalig sowieso. Im ersten Band eine reich illustrierte Bildbiografie des tschechischen Literaturwissenschaftlers Josef Cermak, im zweiten, verteilt auf mehrere Mappen, eine Kollektion fantastisch reproduzierter Kafka-Dokumente: Ansichtskarten aus Versailles und Franzensbad, Briefe, Postkarten an den Vater, Gesuche, Zeugnisse, mal deutsch, mal tschechisch, ein Schreiben Ottlas und als Krönung Kafkas letzter, zweimal abgebrochener Brief. Man könnte glauben, die Originale in der Hand zu haben.

Auf dem Büchertisch im Marbacher Museumsshop war die Ausgabe nicht zu finden. Aber sie ist, erschienen 2010, immer noch lieferbar. Wer Kafkas Nähe sucht, sollte zugreifen.

Briefe an Ottla. Von Franz Kafka und anderen. Bis 10. September im Literaturmuseum der Moderne, Marbach.

Franz Kafka: Briefe an Ottla und die Familie, hg. von Hartmut Binder und Klaus Wagenbach, Fischer Taschenbuch Verlag, 249 Seiten, br., 9,99 Euro.

Josef Cermak: »Ich habe seit jeher einen gewissen Verdacht gegen mich gehabt«. Band 1: Leben und Werk, 141 Seiten, Band 2: 30 Faksimiles, Parthas Verlag, 68 Euro.

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