Die reiche Welt des Augenblicks

Wien: Fotografie aus drei Jahrhunderten im Leopold-Museum

  • Gert Claußnitzer
  • Lesedauer: 3 Min.
Rus Arnold (1881-1963) – Untitled (Gelatin silver print, 24,5 x 19,4 cm)
Rus Arnold (1881-1963) – Untitled (Gelatin silver print, 24,5 x 19,4 cm)

Auf ungewöhnliche Weise nähert sich das Museum Leopold in Wien dem Thema Fotografie. Der Gegenstand der Betrachtung ist eine repräsentative Auswahl von Fotografien aus den Privatsammlungen von Andra Spallart und Fritz Simak. Beide Sammler haben sich gegen den Mainstream gestellt und Werke gesammelt, die nicht nur große Namen repräsentieren, sondern auch weniger bekannte Autoren. Es geht ihnen dabei einzig um Qualität und die Idee eines Werkes. Beide Sammlungen, die unter dem Namen »Sputnik« in Erscheinung treten, unterliegen einer »visuellen Ideologie«, wie man es wohl nennen könnte. Gesammelt wird nicht nach traditionellen Schulen der Kunstgeschichte, denen man die einzelnen Fotografien zuordnet, auch nicht nach stilgeschichtlichen Gesichtspunkten, sondern nach speziellen künstlerischen Neigungen.

Auswahl, Bewertung, In-Beziehung-Setzen, das sind die grundlegenden allgemeinen Gedanken dieser Ausstellung. Der Dialog steht mithin im Mittelpunkt der Darstellung. Die Besonderheiten der jeweiligen künstlerischen Persönlichkeit wird im Kontext mit anderen beleuchtet. Die Weigerung, ein vergleichendes Urteil im Zusammenhang der Geschichte abzugeben, erscheint angemessen. Auf das Eigenleben jedes Werkes kommt es an.

Es ist bekanntlich der Fantasie des Betrachters überlassen, wie intensiv er sich auf Bilder einlässt, was sie ihm bedeuten können und ihm zu »sagen« vermögen. Goethe spricht von der »zarten Empirie, die sich dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird«. Die Fotografie war damals noch nicht ausgearbeitet. Doch man könnte diesen Satz auf diese Ausstellung beziehen. Eine reiche Welt an Augenblicken erschließt sich einem und man nimmt mit Gewinn eine ganz besondere Bilderwelt wahr, die entblößt ist von begleitenden Fakten und Zahlen, von den »früheren Gewissheiten« der wissenschaftlichen Betrachtungsweise. In einer Zeit, da uns unvorstellbar viele Bilder umgeben, gleichsam eine Flut von Erscheinungsbildern uns überspült, so dass wir förmlich in Abhängigkeit vom Tumult der Bilder geraten, ist es eine Wohltat in eine Bilderausstellung eintauchen zu können, die förmlich zur Entschlackung, zur Enthaltsamkeit einlädt. Die Bilderfluten der Gegenwart haben zu einem Verlust an Realität geführt. Die Wiener Ausstellung lässt uns womöglich wieder an »eine Entität von Bild und Welt« glauben, an einen Gewinn von Bildhaftigkeit.

Natürlich begegnen wir auch in der Sammlung »Sputnik« einigen Pionieren der Fotografie, Herbert Bayer zum Beispiel, der am Bauhaus tätig war, stark vom Surrealismus beeinflusst, und der Dinge aufnahm voller magischer Befindlichkeiten, oder Edward Weston.

Der überragende Fotograf der »Neuen Sachlichkeit« zog gegen die »Salon-Psychologie« der Fotografie zu Felde, die dem unverfälschten schöpferischen Sehvermögen im Wege stand. Er entdeckte das Stillleben für die Fotografie. Franz Fiedler, der Dresdner, ist mit seinem Zyklus »Narre Tod mein Spielgesell« von 1921 vertreten. Er experimentierte mit der ausgefallenen Idee eines Totentanzes.

Ganz im Gegensatz dazu Henri Cartier-Bresson, der Franzose, ein Pionier der Fotoreportage! Der schnelle Augenblick fesselte ihn, die Erkenntnis eines Ereignisses. Den allseits bekannten Lichtbildern treten eine Vielzahl gänzlich Unbekannter zur Seite, auch anonyme Bilder. Sie kommunizieren mit Aufnahmen der bekannten Fotokünstler in unterschiedlichsten Regionen, Epochen und Anwendungsbereichen.

Das Nebeneinander der Bildideen bereitet Vergnügen und ist wohl auch ein Schritt zu einer neuen Theorie der Sichtbarkeit.

Magie des Objekts.

Leopold-Museum Wien.

Bis 3. Oktober. Katalog.

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