Tunesien - Vom Irak und von Algerien lernen

Islamismus (k)eine Option?

  • Lesedauer: 6 Min.
Die Rolle des Islams wird in Tunesien neu diskutiert
Die Rolle des Islams wird in Tunesien neu diskutiert

Der 23. Oktober 2011, der tunesische Wahltag, rückt immer näher. Die Nervosität im Lande steigt, da das Auftreten von Unruhen in Wahlphasen für den afrikanischen Kontinent nichts ungewöhnliches sind. Das Auswärtige Amt (AA) weiß die Bedeutung dieses Datums einzuordnen, sodass mehrere Treffen zwischen hochrangigen Persönlichkeiten aus Tunesien und Deutschland stattfanden, zuletzt der Besuch des tunesischen Außenministers Mohamed Mouldi bei seinem Amtskollegen Guido Westerwelle am 04.07.2011 in Berlin. Doch welche bisherigen Reformen hat die Übergangsregierung unter Fouad Mebazaâ überhaupt anstoßen können und wo lauern die Risiken für die Einleitung eines demokratischen Zeitalters in Nordafrika?

Politische Reformen gehen in die richtige Richtung


Je früher der politische Neubeginn angestoßen werden kann, desto schneller wird sich die Ökonomie der rund 10 Millionen an Einwohnern umfassende Nation erholen können. Diese Erkenntnis ist ungefragt jedem politischen Verantwortlichen in Tunis längst bewusst. Denn die ersten politischen Entscheidungen lassen viel Optimismus aufkommen, sodass sich das Land durchaus auf einem guten Weg befindet. Die Presse darf in der Post-Ben Ali-Ära nun erstmals seit Gründung der Republik vom 20. März 1956 frei berichten. Die Zensur von einstigen verbotenen Literaturwerken ist aufgehoben worden, politische Gefangene wurden aus der Haft entlassen, Entschädigungszahlen sind für die Opfer der Jasminrevolution vorgesehen, gegen Ben Ali läuft ein weiterer Haftbefehl und sämtliche RCD getreue Gouverneure ( = vergleichbar mit dem Amt des Ministerpräsidenten in Deutschland) sind ausgetauscht worden. Zudem besteht die gegenwärtige „Regierung der Nationalen Einheit" von Präsident Fouad Mebazaâ aus Mitgliedern der Opposition und Regierung - ähnlich dem simbabwischen Vorbild von Robert Mugabe (ZANU-PF) und Morgan Tsvangirai (MDC). Ferner soll die Polizei im Lande restrukturiert werden, da diese jene Institution darstellt, die mit dem Regime von Ben Ali am ehesten in Verbindung gebracht wird. Eine Kommission zur Verfassungsänderung hat mittlerweile ebenfalls die Arbeit aufgenommen und die Regierung bekennt sich ausdrückt zur Einhaltung von internationalen Abkommen, vor allem hinsichtlich der Wahrung von Menschenrechten.

Tunesien - vom Irak lernen

Die schwierigste Herausforderung wird die Etablierung eines nach westlichen Maßstäben ausgerichteten Parteienwettbewerbs sein. Zurzeit entstehen zunehmend mehr neue Parteien. Die Zahlen schwanken um 90 Parteineugründungen seit dem Machtwechsel vor sechs Monaten. Zudem gilt es die verfassungsmäßige Umgestaltung der Republik weg von einer auf den Präsidenten fixierten und zentralistischen Regierungsform hin zu einer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie einzuleiten. Essentiell für diesen Erfolg bleibt, so die gemachten Erfahrungen im Irak, dass gewisse Strukturen des „alten Tunesiens" übernommen werden müssten. Die Justiz, das Polizeiwesen und die Geheimdienste erfordern ihren Platz im neuen Demokratiemodell, während das Militär als Hüter des tunesischen Volkes bereits einen guten Ruf genießt. War es die Armee, die während der Umbrüche gegen die Polizei vorging, um die Bürger zu schützen.

Der Irak hat gezeigt, dass die von den USA initiierte Auflösung des Militärs oder der Baath-Partei von Saddam Hussein fatale Konsequenzen hervorgebracht haben, die sich bis zum heutigen Tage in Attentaten widerspiegeln. Bedauerlich ist, dass die Übergangsregierung Tunesiens die Partei von Ben Ali nun aufgelöst hat – ein fataler Fehler. Sollte diese einseitig gedachte Auflösungspraxis auch im Öffentlichen Dienst fortgesetzt werden, so stehen dem Land gefährlichere Zeiten bevor.


Zäsuren aus dem In- und Ausland

Tunesien befindet sich auf dem richtigem Weg. Ob die Fahrt erneut kurzzeitig unterbrochen wird, kommt mitunter vor. Der Einmarsch libyscher Truppen hinter die tunesische Grenze, der mehrfache Beschuss der südtunesischen Stadt Dehiba durch Gaddafi-Anhängern und Kämpfe mit dem tunesischen Militär lösten vor wenigen Wochen weitere Besorgnis aus. Ferner reisen zunehmend mehr Flüchtlinge aus Libyen nach Tunesien ein, welches logistische Probleme aufwerfen dürfte, die nur unter der Mitwirkung der Vereinten Nationen und der Europäischen Union gelöst werden können.
Genauso ist zum Anfang Juli 2011 bekannt geworden, dass aus tunesischen Gefängnissen erneut gezielt Straftäter freigelassen und Polizeiwachen attackiert worden sind. Es mehren sich die Eindrücke, dass ein Zustand der Angst geschürt werden soll, um dem neuen Tunesien jede Grundlage einer demokratischen Transformation zu nehmen. Jüngst kommen Spannungen zwischen Islamisten und säkularen Bürgern hinzu, welche im Raum Tunis gewalttätig endeten.
23. Oktober 2011 – Islamistischer Wahlsieg (nicht) zu erwarten!?
Eines ist deutlich – Tunesiens Demokratisierung stehen gewaltige Risiken aus dem In- und Ausland gegenüber. Die Etablierung eines demokratischen Systems obliegt jedoch im Grunde genommen einem Mann, Fouad Mebazaâ, der mit seinem Intellekt und Ehrgeiz am neuen Wahltermin festhalten muss. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) betonte während seines Aufenthaltes in Tunis am 12. Februar 2011, dass Tunesien zum „Musterbeispiel" für das Morgenland aufsteigen könne. Hierfür stellt das AA eine sogenannte „Transformationspartnerschaft" für die kommenden Jahre zur Verfügung.
Befürchtungen westlicher Beobachter und einiger tunesischer Analysten, wonach die als islamistisch geltende Partei El Nahdha unter dem von London geduldeten Ex-Exil-Oppositionellen Rachid al-Ghannouchi die Wahlen gewinnen könnte, erweist sich in Anbetracht der negativen Erfahrungen im Nachbarland Algerien auf den ersten Blick als unwahrscheinlich. Denn Anfang der neunziger Jahre gewann die Islamische Heilspartei (FIS) fast die Hälfte der Parlamentssitze. Das Militär sah es als unerlässlich an, dass die Wahlen nicht zugunsten der Islamisten ausgehen dürften, sodass der komplette Wahlvorgang annulliert worden ist. Seither befindet sich das erdölreiche Land in einem Bürgerkrieg mit bis heute geschätzten 150.000 Toten. Allerdings nehmen die Aktivitäten der Islamisten im ganzen Lande zu. Bisheriger Höhepunkt waren die gewaltigen Ausschreitungen durch Islamisten, die die Aufführung der von Nadia El-Feni geführten Dokumentation «Ni Allah ni maître» im Kino Afric'Art in Tunis am 26.06.2011 versuchten zu verhindern. Die Regisseurin, die sich für die Fortsetzung des Säkularismus und der Trennung von Staat und Religion stark macht, sieht sich gegenwärtig einer gewaltigen Hetzkampagne im Netz ausgesetzt.

Ebenfalls ist nun bekannt geworden, so die Meldungen mehrerer Einheimischer, dass Anwälte durch Islamisten gezielt angegriffen werden, welche sich öffentlich für den Laizismus stark machen. Eine durch den katarischen TV-Sender Al Jazeera English im Auftrag gegebene Umfrage hat darüberhinaus ergeben, dass jeder zweite Tunesier bisweilen nicht weiß, für wen am 23. Oktober 2011 die Stimme abgegeben werden soll. Laut Al Jazeera English würden der Befragung zufolge rund 21 Prozent die islamistische Partei El Nahda wählen, gefolgt von der Progressiv-demokratischen Partei (PDP) mit 8 Prozent und der Kommunistischen Arbeiterpartei Tunesiens mit 5 Prozent. Interessant dürfte vor allem die Erkenntnis sein, dass rund 47 Prozent der befragten Tunesier für die Etablierung eines politischen Islams plädieren - die Interpretation dessen, was unter der Terminologie des politischen Islams zu verstehen sei, dürfte jedoch individuell unterschiedlich ausfallen.

Der vorliegende Text ist mit freundlicher Genehmigung vom Blog des Autors übernommen worden.

Video: Islamisten stürmen das Kino Afric'Art in Tunis am 26.06.2011
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