Juristischer Feldzug gegen Ungarns Sozialisten?

Regierungschef Orbán würde seine Vorgänger gerne vor Gericht sehen

  • Gábor Kerényi, Budapest
  • Lesedauer: 3 Min.
Ehemalige Regierungsmitglieder sollen sich wegen Ungarns hoher Verschuldung vor Gericht verantworten müssen. Viktor Orbán, allmächtiger Regierungschef, und seine Parteisoldaten haben das in der dritten Republik bislang neue Terrain des politischen Prozesses betreten.

Péter Szijjártó hat sich seit frühen Jugendjahren darin geübt, die Ideen des Regierungs- und FIDESZ-Parteichefs Viktor Orbán möglichst blutrünstig zu kommunizieren. Schon im zarten Alter von Mitte 20 hatte er sich damit in die erste Reihe der FIDESZ-Kader vorgearbeitet, inzwischen hat er neben zahlreichen anderen Posten auch den wohlklingenden Titel eines »persönlichen Sprechers von Viktor Orbán« ergattert.

Am vergangenen Sonntag verkündete Szijjártó hoch zufrieden, der Unterausschuss für die Untersuchung des Anstiegs der Staatsverschuldung zwischen 2002 und 2010, also in der Amtszeit sozial-liberaler Koalitionen, könne nun bestätigen, dass die sozialistisch-freidemokratischen Regierungen an Ungarn eine politische Sünde begangen haben. Szijjártó plappert damit nach, was sein Chef vor einem Monat in der österreichischen »Kronenzeitung« verkündet hatte, nämlich, dass Schuldenmachen – so Orbán wörtlich – eine Sünde biblischen Ausmaßes sei.

Der zufällig von Szijjártó geleitete besagte Unterausschuss, dessen Arbeit die Sozialisten und die kleine Grünenpartei LMP von Anfang an boykottiert haben, beschloss am Wochenende außerdem einstimmig, dass – von der politischen Verantwortung der verhassten Vorgänger abgesehen – auch die Möglichkeit geprüft werden soll, ob Mitglieder der damaligen Regierungen auch juristisch für ihre Sünden belangt werden können.

Kaum jemand in Ungarn zweifelt daran, dass eine solche Möglichkeit gefunden wird. Szijjártó machte kein Hehl daraus, dass zu diesem Zwecke notfalls auch Gesetzesänderungen vorgenommen werden – rückwirkend, versteht sich.

Dieser Schritt ist die Krönung eines einjährigen Rachefeldzugs gegen alle sozialistischen Ministerpräsidenten – Péter Medgyessy (2002-2004), Ferenc Gyurcsány (2004-2009) und Gordon Bajnai (2009-2010) – wie gegen deren verschiedene Finanzminister und viele andere.

Die Staatsverschuldung hat sich während des letzten Jahrzehnts, wie Szijjártó verkündete, von 53 auf 82 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöht. Die Tatsache, dass auch das erste Orbán-Kabinett der Jahre vor 2002 fleißig an einer höheren Staatsverschuldung gearbeitet hat, wird mit Hilfe der gesetzlich verankerten Medienherrschaft der regierenden Koalition aus FIDESZ und Christdemokraten nahezu verschwiegen. Kein einziges unter staatlicher Kontrolle stehendes Medium berichtet darüber.

Derzeit gebe es in Ungarn keinen Straftatbestand, aufgrund dessen eine Person wegen erhöhten Budgetdefizits oder gestiegener Staatsverschuldung vor Gericht gestellt werden könnte, erklärte der Verfassungsjurist István Lövétei der linksliberalen Tageszeitung »Népszabadság«. Um dies zu ermöglichen müsste, so Lövétei, nicht nur die noch gültige Verfassung, sondern auch das neue Grundgesetz geändert werden, das FIDESZ ohne gesellschaftliche Debatte in diesem Frühjahr durchs Parlament gepeitscht hat. Doch die Orbán-Partei hat sich im ersten Jahr ihrer Regierung, gestützt auf ihre parlamentarische Zweidrittelmehrheit, in Sachen rückwirkender und verfassungsändernder Gesetzgebung bereits fleißig geübt.

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