Sangerhausen im Konjunktiv

Lutz Seiler und sein Gedichtband »im felderlatein«

  • Kai Agthe
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Gedichte Lutz Seilers lassen sich nicht erwandern, sondern sie wollen erklommen sein. Sie sind, wie ein Gebirge, eine Herausforderung. Wenn man diese annimmt, dann hat man vom Gipfel seiner Dichtung einen Blick, der die Mühen des Aufstiegs reichlich belohnt. Bis es so weit ist, bedarf es freilich mehrerer Anläufe. Das klingt an im Wort des Kritikers und Lyrikers Harald Hartung: »Man liest diese schönen und wichtigen Gedichte nicht so bald aus.«

Lutz Seilers »im felderlatein« knüpft inhaltlich und formal an das viel beachtete Lyrikdebüt »pech & blende« (2000) und den Gedichtband »vierzig kilometer nacht« (2003) an. Charakteristisch für Seilers Lyrik sind freirhythmische und reimlose Verse, in denen er ausschließlich »&«, das sogenannte »Kaufmanns-Und«, verwendet. Die Strophengestaltung ist mal streng und mal locker. Die Form von Seilers Gedichten passt sich, so scheint es, stets dem Inhalt an.

Lutz Seiler, der sich zuletzt mit dem Band »Die Zeitwaage« (2009) als hervorragender Erzähler auswies, hat auch als Lyriker zwei große Themen: die Kindheit und die Landschaft. In einem Gedicht wie »culmitzsch« finden beide Themen zusammen. Culmitzsch ist jener Ort, der südöstlich von Seilers Geburtsort Gera lag, aber, wie es Annerose Kirchner jüngst in ihrem Buch »Spurlos verschwunden« (2010) dargelegt hat, zu DDR-Zeiten dem Uranbergbau der Wismut AG zum Opfer fiel. »nur unter dem schutt / sind die höfe noch warm«, heißt es in Seilers Text, der mit dem Vers ausklingt: »das ist die steinzeit der dörfer.«

Überhaupt ist seine Lyrik ländlich motiviert: »so ernährt mich die provinz», heißt es denn auch im Titelgedicht des aus neun Texten bestehenden Gedichtzyklus »ortsteile gab es, orte«. Was in der Kindheit Thüringen war, das ist heute die Mark Brandenburg. Dort ist Lutz Seiler – der die Peter-Huchel-Gedenkstätte in Wilhelmshorst leitet – seit Jahren zu Hause. Und so ist »in die mark« ein programmatisches Gedicht, das mit den Worten anhebt: »ich sah, was Kiefern schrieben mit / ihrem von schnee schwer abgehangenen / gebein.«

In Anlehnung an den Titel einer von Kleist in den »Berliner Abendblättern« 1810 mitgeteilten Anekdote, heißt ein Seilersches Gedicht »anekdote aus dem letzten krieg«. Während Kleist in seinem Histörchen von einem tollkühnen preußischen Tambour aus der Schlacht von Jena und Auerstedt 1806 berichtet, erinnert sich das lyrische Ich an seine Zeit als Rekrut in einer Armee, die unschwer als NVA zu erkennen ist.

Mit »abfahrt sangerhausen – als« ist ein Gedicht enthalten, das Einar Schleef zugeeignet ist. Eine schöne Würdigung des Dichters und Theatermannes, der vor zehn Jahren in Berlin starb. Diesem Text kommt man noch näher, wenn man sich in der frühen Biografie des 1944 in Sangerhausen geborenen Einar Schleef auskennt. Seine 1953 einsetzenden Tagebücher, die auch Lutz Seiler zur Kenntnis genommen haben dürfte, bieten dafür einen guten Einstieg. Das Schleef-Gedicht ist in seinen wesentlichen Teilen im Konjunktiv gehalten: Das lyrische Ich ist auf der Harzautobahn unterwegs und könnte die Abfahrt Sangerhausen nehmen, tut das aber nicht. Es sollte aber irgendwann den Abstecher wagen. Denn die Stadt atmet noch den Geist, den Schleef in seinem zweibändigen Roman »Gertrud« (1980/84) beschrieben hat. Zusammen mit dem »darß gedicht« ist die Schleef-Hommage einer der schönsten Texte in dem Band.

Lutz Seiler: im felderlatein. Gedichte. Suhrkamp. 99 S., geb., 14,90 €.

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