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Prophet auf dem Grund des steinernen Meeres

Das vergessene Genie: Georg Heym

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 9 Min.
Georg Heym, geboren am 30. Oktober 1887 im schlesischen Hirschberg, wurde mit seinem 1911 erschienenen Debüt-Band »Der Ewige Tag« zu einem Mitbegründer des literarischen Expressionismus. Heym, der nach einem Studium der Rechtswissenschaft lustlos als Referendar an Amtsgerichten arbeitete, sorgte mit seinen Auftritten im Berliner »Neopathetischen Cabaret« für Aufsehen. Er ertrank mit vierundzwanzig Jahren, am 16. Januar 1912, beim Schlittschuhlaufen in der Havel. Die nach seinem Tod erschienene Gedicht-Auswahl »Umbra vitae« und die Novellensammlung »Der Dieb« bezeugen sein dichterisches Genie.
Georg Heym, geboren am 30. Oktober 1887 im schlesischen Hirschberg, wurde mit seinem 1911 erschienenen Debüt-Band »Der Ewige Tag« zu einem Mitbegründer des literarischen Expressionismus. Heym, der nach einem Studium der Rechtswissenschaft lustlos als Referendar an Amtsgerichten arbeitete, sorgte mit seinen Auftritten im Berliner »Neopathetischen Cabaret« für Aufsehen. Er ertrank mit vierundzwanzig Jahren, am 16. Januar 1912, beim Schlittschuhlaufen in der Havel. Die nach seinem Tod erschienene Gedicht-Auswahl »Umbra vitae« und die Novellensammlung »Der Dieb« bezeugen sein dichterisches Genie.

"Mein Gott – ich ersticke noch mit meinem brachliegenden Enthusiasmus in dieser banalen Zeit." (Georg Heym)

Die Prophezeiung sucht sich ihren Mund. Einen, dem die Furcht davor fehlt, was sich an Tönen in ihm bildet. Der ganz Sprachrohr wird für etwas, das von fern kommt, aus der eigenen Fremde, die sich nicht versteht und darum keinen Namen hat für die schwarzen Halbinseln, die unaufhörlich wachsen. Ist es die Geburt, oder der Tod? Eine Wiedergeburt im Tod gewiss, doch nicht mehr als ein kurzer Lichtblitz in langer Nacht.

Da tritt einer mit unüberhörbarem Krachen auf das Eis der Verhältnisse. Im Schlaglicht der Sensation stürzt er aus dem Dunkel der Anonymität hervor. Vor genau einhundert Jahren erscheint sein Gedichtband »Der Ewige Tag«. Ein Skandal. Eine Sensation. An diesem Grobklotz, der mit Worten zuschlägt wie vor ihm Villon oder Rimbaud, werden sie noch zu würgen haben. Davor gibt es keine Deckung in Humanismus und Tradition. Wenige Monate später ist der Vierundzwanzigjährige tot – ertrunken beim Schlittschuhlaufen in der Havel.

Als er im Eis versinkt, nimmt das den Untergang eines Zeitalters nur vorweg. Was an der Oberfläche noch bruchlos scheint – es trägt einen wie ihn nicht mehr. Hugo Ball sagt: »Seine Gedichte sind geschrieben, als triebe er schon unter Eis.»

Meine Seele

Meine Seele ist eine Schlange,
Die ist schon lange tot,
Nur manchmal in Herbstesmorgen,
Entblättertem Abendrot
Wachse ich steil aus dem Fenster,
Wo fallende Sterne sind,
Über den Blumen und Kressen
Meine Stirne spiegelt
Im stöhnenden Nächte-Wind.

Im Juli 1910 hat er einen Traum – er sieht sich ertrinken: »Ich stand an einem großen See, der ganz mit einer Art Steinplatten bedeckt war. Es schien mir eine Art gefrorenen Wassers zu sein. Manchmal sah es aus wie die Haut, die sich auf Milch zieht. Es gingen einige Menschen darüber hin, Leute mit Tragelasten oder Körben, die wohl zu einem Markt gehen mochten. Ich wagte einige Schritte, und die Platten hielten. Ich fühlte, daß sie sehr dünn waren; wenn ich eine betrat, so schwankte sie hin und her. Ich war eine ganze Weile gegangen, da begegnete mir eine Frau, die meinte ich sollte umkehren, die Platten würden nun bald brüchig. Doch ich ging weiter. Plötzlich fühlte ich, wie die Platten unter mir schwanden, aber ich fiel nicht. Ich ging noch eine Weile auf dem Wasser weiter. Da kam mir der Gedanke ich möchte fallen können. In diesem Augenblick versank ich auch schon in ein grünes schlammiges, schlingpflanzenreiches Wasser.«

An seiner Kraft zweifelt er nie, doch wie eisiges Wasser in kurzer Zeit die Muskeln zu lähmen vermag, ahnt er wohl nicht auf der Höhe seines kurzen heftigen Sommers, im Überwindergefühl des Allbezwingers. Wer soll dem widerstehen? »Doch ich gab mich nicht verloren, ich begann zu schwimmen. Wie durch ein Wunder rückte das ferne Land mir näher und näher. Mit wenigen Stößen landete ich in einer sandigen, sonnigen Bucht.«

Das Wunder seiner Rettung bleibt aus an diesem 16. Januar 1912, nachmittags irgendwann zwischen drei und vier Uhr, nahe der Insel Lindwerder, am Ostufer der Havel. Der dienstunwillige Justiz-Referendar Heym, der schon mal eine Grundbuchakte, die ihn nervt, zerreißt und ins Klo schmeißt, das prompt verstopft – solch einen Skandal gab's noch nie am Amtsgericht Lichterfelde! – taucht einfach ab. Es lebe »Der Ewige Tag«!

*

Ohne den Tod gäbe es den Dichter Georg Heym nicht. Hermann Heym hat teil an der Welt, die tötet. Der Vater Georg Heyms ist Staatsanwalt, und als solcher muss er die Vollstreckung von Todesurteilen, die er zuvor beantragt hatte, auch überwachen. Aber er ist dazu nicht stumpf genug. In ihm steckt zuviel von dem, was den Sohn zum Dichter macht. Ein depressiver Mensch, der sich in hysterische Ausbrüche und schließlich eine frömmelnde Form von Religiosität flüchtet. Im Herbst 1899 bricht er zusammen. Ein nunmehr defektes Teil der Vollstreckungsmaschinerie. Es wird nie mehr reibungslos funktionieren. Vorerst macht der Nervenzusammenbruch einen Sanatoriumsaufenthalt notwendig, der sich ein Jahr lang hinzieht. In dieser Zeit, kurz nachdem der Vater ins Sanatorium gekommen ist, schreibt der zwölfjährige Georg seine ersten Gedichte.

Wäre sein Vater, der staatserhaltende preußische Beamte, nicht im Vollzug des Tötens zusammengebrochen, hätte sich für den Sohn dieser schmale Spalt in der Tür, die die Bürger sonst fest verschlossen halten, vielleicht nie geöffnet. Er sieht nun erstmals, von der väterlichen Autorität befreit, ein verbotenes Land. Der Sohn ist in der Pubertät, als der Vater, in seiner Rolle des unbestrittenen Patriarchen, von der häuslichen Bühne abtritt. Der Vater geht eher selber zugrunde als dass er gegen die Gesetze des preußischen Beamtenstandes revoltiert. Dasselbe fordert er auch von seinem Sohn. Doch der wächst ihm über den Kopf. Allerdings nur in seinen Texten, nicht im Alltag findet er die Kraft, hier auszubrechen. Schreibend führt er den Kampf gegen die Väterwelt. Siegreich?

Erwin Loewenson erinnert sich: »Außer Georg war die ganze Familie hager, ausgemergelt, vertrocknet, verschrumpelt.« Paul Alterthum ist sich sicher, dass sein steter Kampf gegen das Spießertum der Eltern dazu führte, »sich durch Demolierungen von Schildern, Zäunen etc. zu entspannen und seine dämonischen Triebe abzureagieren ... H.s pausbackig, rotwangiges Gesicht war fast immer von einem Lächeln überzogen, das zu deuten schwer hält.« Und John Wolfsohn beschreibt Georg Heym zehn Jahre nach seinem Tod so: »Wenn man den blonden Georg Heym ansah, strotzend mit den Muskeln seines untersetzten Körpers und dem geistigen Ausdruck seines fast halslosen Kopfes, der dicken Rundung seines Schädels, unter dem sein gesundes Gesicht hervorstieß, seine kurze, schräge Stirn, buschige, blonde Augenbrauen, die hellen und klaren Augen in ihren Höhlen, wenn die kräftige, gerade, etwas stupfige Nase, den Stoß des Gesichts machtvoll sublimierend, dem Beschauer entgegensprang, wenn man ihn so sah, dachte man an einen Naturburschen. So etwas war er auch. Er trank gelegentlich aus einer Waschkanne statt aus dem Glase, das ihm zu klein und zu beschwerlich zu füllen war ...«

Geboren am 30. Oktober 1887 im schlesischen Hirschberg: Das erste Bild von Landschaft, das er wahrnimmt, zeigt lauter Hügel und Seen. Als Georg Heym fünf Jahre alt ist, wird sein Vater nach Posen versetzt. Hier kommt er ein Jahr später auch zur Schule. 1894 wird der Vater Erster Staatsanwalt in Gnesen, dort besucht Georg Heym ab 1896 das Gymnasium. Drei Jahre später versetzt man den Vater zurück nach Posen – hat er im Amt versagt, oder war es sein eigener Wunsch? 1899 muss er für ein Jahr ins Sanatorium. Die Familie folgt jeder dieser Karrierewendungen des Vaters mit Wohnortwechsel. So besucht der Zwölfjährige – temporär vaterlos – schließlich das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Posen. Das Harmonische der Landschaft, ihre oft gepriesene Anmut – für ihn kontrastiert sie vor allem eine zerrissene Kindheit.

Die Dinge sind nicht das, was sie scheinen, diese Grunderfahrung vermittelt ihm die Landschaft Schlesiens. Der Vater etwa schien eine unanzweifelbare Respektperson, die Verkörperung des preußischen Beamtentums in einem Menschen zu sein. Was ist er jetzt? Er scheint stark, aber er ist schwach. Idyllen sind Lüge, das weiß bereits das Kind.

*

Im Jahr 1900 findet sich die Familie plötzlich in Berlin wieder. Hierher ans Reichsmilitärgericht ist der Vater – soeben aus dem Sanatorium entlassen – versetzt worden. Die Familie bezieht eine Wohnung in Schöneberg, in der Martin-Luther-Straße 5. Georg Heym tritt in die Untertertia des Königlich Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin-Wilmersdorf ein.

Etwas in ihm bleibt immer präsent: der Tod. Ohne den Tod durch Hinrichtung, den der Vater, der ihn erst als Staatsanwalt fordert und dann ihn als Mensch mitansehend nicht erträgt, wäre er nicht hier in Berlin. Dieser Stadt macht ihn wahnsinnig und sie zeugt doch zugleich eine ganze neue Vernunft in ihm. Sie lähmt ihn und versetzt ihn in ungeahnte Bewegungen. Sie ist der Bruch mit aller Naturharmonie, von dem er in Hirschberg und Posen nur erst zaghaft träumte. Das ist befreiend von aller Herkunftsenge und wieder neu gefangensetzend in unmäßigem Zukunftsfuror.

Der Tod hat die Bühne für ihn freigeräumt, aber was soll er darauf spielen? Er probt sofort seine neue Rolle, die eines Dieners jener schrecklichen Macht, die ihn als Souverän eingesetzt hat. Das Geschlecht erwacht inmitten von Selbstvergottung und Auflösungspanik. Eine fortan unaufkündbare Verbindung.

Nach der Schlacht

In Maiensaaten liegen eng die Leichen
Im grünen Rain, auf Blumen, ihren
Betten.
Verlorne Waffen, Räder ohne Speichen,
Und umgestürzt die eisernen Lafetten.
Aus vielen Pfützen dampft des Blutes Rauch,
Die schwarz und rot den braunen Feldweg decken.
Und weißlich quillt der toten Pferde Bauch,
Die ihre Beine in die Frühe strecken.
Im kühlen Winde friert noch das
Gewimmer
Von Sterbenden, da in des Osten Tore
Ein blasser Glanz erscheint, ein grüner Schimmer,
Das dünne Band der flüchtigen Aurore.

»Nach der Schlacht« ist auf den 8. September 1910 datiert. Da geht für den Zweiundzwanzigjährigen gerade sein vorletzter Sommer zuende, der ihm erste Auftritte im »Neopathetischen Cabaret« und Gedichtveröffentlichungen im »Herold« gebracht hatte. Nun glaubt er sich den Dichter: »Was ich vor Nietzsche, Kleist, Grabbe, Hölderlin ... voraus habe? Das ich viel, viel vitaler bin. Im guten und im schlechten Sinn.«

Ein Taumel elementarster Befreiung. »Nach der Schlacht« sammelt die Zerstörungsenergien inmitten der Lethargie des Bestehenden. »Geschehe doch einmal etwas. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut... Dieser Friede ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln. Was haben wir auch für eine jammervolle Regierung, einen Kaiser, der sich in jedem Zirkus als Harlekin sehen lassen könnte. Staatsmänner, die besser als Spucknapfhalter ihren Zweck erfüllen, denn als Männer, die das Vertrauen des Volkes tragen sollen.«

Die flüchtige Aurore wird zur Fahne, hinter der er die Truppen für eine kriegerische Existenz sammelt. Aurore, die angesichts des Schreckens flüchtet, und Aurore, die sich nur flüchtig zeigt.

Zukunft verheißt und Zukunft droht. Verwandlungsintensität wird zum einzigen Kontinuum in dieser Utopie des Unwägbaren. Ein kristallisierter Identitätspunkt von Welt- und Spracherfahrung. Darin bewahrt sich das poetische Geheimnis Gedicht. Als fließendes Stillstehn.

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