Was ich mir vom Leben wünsche

Mancher Steppke erhält den ersten Ranzen vom Kinderhilfswerk Staatliches Starterpaket stillt nicht realen Bedarf zum Schulbeginn

  • Burga Kalinowski
  • Lesedauer: 6 Min.
Neugier aufs Leben – ganz und gar ungetrübt ND-
Neugier aufs Leben – ganz und gar ungetrübt ND-

Ich nenne sie Sybille. Das ist die Absprache: Ich darf über sie schreiben, aber nicht ihren richtigen Namen. Jetzt hat sie sowieso keine Zeit. Sie muss sich kümmern. Gleich geht es hier los. Die Verteilerliste liegt parat. Der Tisch steht schon draußen. Die Schulranzen sind dekorativ aufgebaut. Kinder toben herum. Eltern quittieren den Empfang der nagelneuen schicken Teile.

Montag, 25.Juli 2011: Im Bunten Haus in Berlin-Hellersdorf findet die Schulranzenaktion des Deutschen Kinderhilfswerkes statt. Aus Spendenmitteln der Hilfsorganisation erhalten Kinder aus armen Familien einen Schulranzen geschenkt. Freude und Überraschung für 47 Mädchen und Jungen und eine Sorge weniger für ihre Eltern. Im Laufe der Woche werden weitere 30 Ranzen vergeben. Schnell hat sich diese Aktion im Berliner Stadtbezirk Marzahn-Hellersdorf rumgesprochen.

Mangel als ständiger Begleiter

Ranzen und Schulmaterialien sind teuer. Für viele Eltern und alleinerziehende Mütter zu teuer. Beim Kinderhilfswerk stapeln sich Briefe verzweifelter Eltern aus ganz Deutschland, die nicht wissen, wie sie das Geld aufbringen sollen. Daran ändert auch das mittlerweile eingeführte staatliche Schulstarterpaket für bedürftige Familien nur wenig – jedenfalls deckt es nur knapp die Hälfte der Ausgaben für die Grundausstattung eines Schulanfängers (siehe Kasten). Und dabei ist noch nicht einmal die Rede von der Zuckertüte, von einem neuen Kleid vielleicht oder von Schuhen, von einer kleinen Feier mit Freunden zum Schulanfang, von einem schönen Blumenstrauß.

Schönheitsfehler? Mehr als das. Mangel als Begleiter auf dem Weg ins Leben, Abwesenheit von unbeschwerter Heiterkeit und Sorglosigkeit. Anspannung, dass es schlimmer wird und Angst, dass irgendwann gar nichts mehr geht – ein Gefängnis der Ausgrenzung und Aussichtslosigkeit. Wo soviel fehlt, fehlen oft auch Kraft und Mut zum Ausbruch. Ist das Armut? Das ist Armut. Ihre Vorreiter heißen Arbeitslosigkeit und Hartz IV. In ihrem Gefolge entstehen ungleiche Bildungschancen und Biotope der Armut. Jede Stadt hat solche Viertel. Im Westen schon immer, im Osten seit 20 Jahren. Dort ging es rasend schnell, wie in einem Hochleistungslabor für neoliberale Experimente. Segregation heißt das und bedeutet: Wer in einem solchen Viertel lebt, hat schon verloren – sehr oft jedenfalls. Kinder sind die ersten Opfer.

»Was ich mir vom Leben wünsche? Gute Frage.« Sybille B. guckt überrascht. Was soll sie sagen. Sie erzählt vom Bunten Haus hier in der Hellersdorfer Promenade. Wie sie hergekommen ist und was sie hier macht. Keine einfache Geschichte. Aber vielleicht eine, die am Ende gut ausgeht für die 29-Jährige und ihre zwei Kinder.

Wir sitzen in einem Rondell der Hellersdorfer Promenade. Bäume, Blumen, Bänke. Schade, dass man damals – 1988/89 – nicht richtige Kirschbäume gepflanzt hat statt der japanischen Zierkirsche. Klettern und Kirschenpflücken – das wär was für Kinder. Vielleicht findet sich ja ein Sponsor für diese Idee. Wär nicht schlecht. Sybille nickt. Sie ist in einem Dorf aufgewachsen. Ob sie hierbleibt? Mal gucken, wie es sich entwickelt.

Wer es nicht weiß, sieht es der breiten, grünen und großzügig gestalteten Promenade nicht an, dass sie mittlerweile ein Sozialraum mit Abwärtstrend geworden ist. Nach einer Studie des Kommunalpolitischen Forums e.V. (berlin) leben in diesen Gebieten vorrangig Familien mit Hartz-IV-Bezug. 44 Prozent aller Kinder unter 15 und jedes zweite Kind unter sechs Jahren wächst mit Hartz IV auf, 59 Prozent aller Kinder und Jugendlichen, die Hartz IV erhalten, leben bei alleinerziehenden Eltern. Daraus entstand die bezirkliche Handlungsstrategie für Kinder- und Familienfreundlichkeit: Anregung und Hilfe zum Beispiel durch Freizeiteinrichtungen muss vor Ort und differenziert erfolgen.

So kam das Quartiermanagement in die Hellersdorfer Promenade, so kam das Bunte Haus hierher – und so kamen Sybille B. (29) und Sophia R. (32) ins Bunte Haus. Zwei, drei Jahre ist das her. Die beiden jungen Frauen besuchten mit ihren Kindern den Familientreff, ein Angebot für gemeinsame Kind-Eltern-Aktivitäten. Wo Kinder in Ruhe spielen können, kommen die Mütter ins Reden, ins Nachdenken, ins Träumen. Ins konkrete Planen auch. Wer weiß, vielleicht können sie biografische Brüche überwinden, aufholen, was versäumt wurde, zum Beispiel einen Berufsabschluss. Jung sind sie, energisch und durchsetzungsfähig. Erst waren sie Gäste, jetzt machen sie mit im Bunten Haus.

Extrahürden vor dem Quereinsteigen

Ich bin hier die Spielefrau, sagt Sybille. Sie macht Rätselrunden, Frage- und Bewegungsspiele mit den Kindern. Sie lässt sich immer was einfallen. Spricht mit den Eltern, gibt Tipps. »Viele kapseln sich ab. Sie schämen sich, weil sie arm sind und nicht gebraucht werden.« Pause. Ein Kind kommt und gibt Küsschen. Dann sagt sie: »Der Mensch wird nicht so geboren, der wird erst so gemacht.« Als die Leiterin des Hauses, Katrin Rother, sie gefragt habe, ob sie einen 1,50-Euro-Job im Bunten Haus machen würde, habe sie gleich zugesagt. Warum? Eine richtige Perspektive ist das ja nicht. Sie macht es, »weil ich die eigene Erfahrung habe. Weil ich denke, dass Kinder nicht unter den Problemen der Erwachsenen leiden dürfen.«

Ja, die Arbeit hier mache ihr Spaß. Es ist ein Anfang. Sie will Erzieherin werden. Es gibt da ein Programm für Quereinsteiger. Und es gibt ein Aber dabei. Der Gesetzgeber schreibt als Voraussetzung den Nachweis einer mindestens einjährigen versicherungspflichtigen Tätigkeit vor. Wenn es nicht so demotivierend wäre, könnte man lachen. Katrin Rother ist empört. »Wer soll die jungen Frauen denn einstellen? Es bekommen schon qualifizierte Leute keine Arbeit.« Sybille wird es trotzdem versuchen.

Sophia hat den ersten Versuch schon hinter sich. Auch ihr fehlte das eine Jahr Und nun? Sie will es weiter versuchen. »Hoffen kann man ja. Aber was kommt dann?« Ihre Wünsche für die Zukunft: »Job, Job, Job.« Ihre Träume: »Eine Reise. Ich war noch nie in einem anderen Land.« Aber erstmal fängt sie jetzt mit Sparen für das Ferienlager ihrer Tochter im nächsten Jahr an.

Für Alleinerziehende ein Glücksspiel

Soziale Lebenslagen, die in Berlin immer häufiger geworden sind. Am schlimmsten trifft es die Bezirke Neukölln und Mitte. Insgesamt leben in Deutschlands Hauptstadt (Stand Dezember 2010) rund 169 000 Kinder und Jugendliche in Hartz-IV-Haushalten, mehr als je zuvor. Etwa 75 500 wachsen in Familien mit alleinerziehender Mutter oder Vater auf. Das bedeutet ein zusätzliches Risiko für Kinderarmut: Die finanziellen, sozialen und psychischen Ressourcen sind halbiert. Jobsuche, besonders für junge alleinerziehende Mütter, ist ein Glücksspiel. Bei Kultur- und Freizeitprojekten für Kinder wird gespart, Bibliotheken werden geschlossen. Das Bildungspaket der Bundesregierung ist gut gemeint und schlecht gemacht, eigentlich ist es benutzerfeindlich.

Für Michael Kruse vom Kinderhilfswerk ist das Ausmaß der Kinderarmut ein Beleg dafür, dass sich »Wertigkeiten gravierend verschoben haben. Dass eine Politik des Sozialabbaus stattfindet, über fünf Euro Zuschlag für Hartz IV diskutiert wird – während die Milliarden für Banken über Nacht durchgewinkt werden. Kinder haben keine Lobby.«

Das hat verheerende Folgen. Kein Zufall, dass Deutschland inzwischen das kinderärmste Land Europas ist, die Kinderzahl in zehn Jahren um 25 Prozent zurückging – im Osten dreimal so stark wie im Westen. Von diesen Kindern ist jedes sechste von Armut bedroht, und 15 Prozent der mehr als 13 Millionen Kinder und Jugendlichen gelten als armutsgefährdet. In absoluten Zahlen sind das zwei Millionen Kinder. Das Kinderhilfswerk spricht von 2,5 Millionen. Ein Rekord. Ein Skandal. Eine Schande.

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