nd-aktuell.de / 09.08.2011 / Politik / Seite 3

36 Jahre tiefes C

Eine John-Cage-Aufführung in Halberstadt hat einen sehr langen Atem, aber wenig Geld

Hendrik Lasch, Halberstadt
Seit zehn Jahren wird in einer Kirche in Halberstadt ein Stück von John Cage gespielt – und zwar ganz langsam. Enden soll die Aufführung in 629 Jahren. Ein Projekt für die Ewigkeit, das mit sehr irdischen Geldsorgen kämpft.
Bestaunte Halberstädter Orgelpfeifen: Seit kurzem kann man die bisher tiefsten Töne des Stücks hören – c' und des'.
Bestaunte Halberstädter Orgelpfeifen: Seit kurzem kann man die bisher tiefsten Töne des Stücks hören – c' und des'.

Was ist eigentlich Musik? Das, was aus der früheren Klosterkirche St. Burchardi in Halberstadt dringt, würde vermutlich nicht jeder als solche beschreiben. Zu hören ist dort ein nicht sonderlich harmonischer, etwas angestrengt klingender Ton, der nicht enden will. Ob da einer auf seiner Autohupe eingeschlafen sei, fragte ein Journalist einmal etwas respektlos. Eine Melodie vernimmt jedenfalls nicht, wer die Kirche betritt, ebenso wenig wie Rhythmus, und auch ein »Geschehen in der Zeit«, das Halberstadts Kirchenmusikdirektor Claus-Erhard Heinrich als Merkmal von Musik anführt, ist nicht zu erkennen. Die Frage, ob hier Musik zu hören ist, sei also nicht ganz unberechtigt, sagt Heinrich – und zitiert John Cage. Auf den Vorwurf, bei seinen Stücken handle es sich nicht um Musik, hat der Komponist geantwortet: »Dann nennen sie es eben irgendwie anders.«

Irgendwie anders müsste man auch die Art der Aufführung nennen, die in Halberstadt seit zehn Jahren einem Stück von John Cage zuteil wird – und die in absehbarer Zeit nicht enden wird. Seit September 2001 erklingt in der Burchardikirche das Stück »As slow as possible« auf einer eigens angefertigten Orgel. Zunächst war nur das Schnaufen der Blasebälge zu hören: Das Stück beginnt mit einem Auftakt. 17 Monate dauerte es, bis die ersten Töne erklangen.

Projekt der Hoffnung

Seither gibt es im leeren Kirchenraum immer etwas zu hören. Als abwechslungsreich ist die Aufführung trotzdem kaum zu bezeichnen. Während andernorts virtuose Musiker ihr Publikum mit rasend schnellen Läufen schwindlig spielen, wechseln die Töne in Halberstadt im Abstand von Monaten und Jahren. Als am vergangenen Freitag die 16 Fuß langen Pfeifen für die Töne c' und des' neu in Betrieb genommen wurden, handelte es sich erst um den elften Klangwechsel in einem Stück, dessen letzter Ton in sage und schreibe 629 Jahren verklingen soll. Das neue c' wird bis 2047 tönen, das des' sogar bis März 2071, ein paar Monate vor Ende des ersten von acht Teilen. »Die meisten von uns«, stellt Rainer O. Neugebauer nüchtern fest, »werden das nicht mehr erleben.«

Neugebauer, ein Professor mit wallendem, grau meliertem Bart, ist als Kuratoriumschef der John-Cage-Stiftung der organisatorische Kopf eines Unterfangens, das von Anbeginn wahlweise Faszination oder Kopfschütteln erregte, mit Sicherheit aber einzigartig ist: eine musikalische Aufführung, die nahezu zwei Drittel eines Jahrtausends andauern soll. Während sich im Laufe eines normalen Konzerts die Welt vor dem Saal kaum entscheidend weiterdreht, weiß in diesem Fall niemand, ob die Zeitläufte der Aufführung gewogen sind: ob wirtschaftliche Krisen oder politische Zäsuren ihr ein Ende setzen, ob Stürme das Dach des Kirchleins abdecken – oder künftige Generationen vielleicht schlicht das Interesse verlieren. Es sei, gibt Neugebauer unumwunden zu, ein »Projekt der Hoffnung«.

Solche Gedanken dürften die Urheber der Idee im Sinn gehabt haben, die 1997 bei der »Woche für zeitgenössische Orgelmusik« in Trossingen entstand. Deren Teilnehmer befassten sich mit dem Cage-Stück »As slow as possible« und überlegten, wie langsam »So langsam wie möglich« tatsächlich sei. Ursprünglich wurde das Stück für Klavier geschrieben, ein Instrument, bei dem angeschlagene Töne verhallen. Damit war das minimale Tempo vorgegeben; die Uraufführung dauert 22 Minuten. Später schrieb Cage eine Fassung für Orgel. Die Dauer ist in diesem Fall, wie der Orgelexperte Christoph Bossert feststellte, »letztlich vom Instrument unabhängig«. Sei eine »permanente und theoretisch unbegrenzte Windversorgung gewährleistet«, können die Töne so lange dauern wie gewünscht. Das Stück kann gestreckt werden, bis der Organist entkräftet vom Stuhl rutscht oder die Orgel in Stücke fällt. Die Vorschläge, so steht zu vermuten, wurden extravaganter – bis man auf die Jahreszahl 1361 stieß. In dem Jahr wurde im Halberstädter Dom eine Blockwerksorgel eingeweiht, die in die Musikgeschichte einging: Erstmals war die Oktave in zwölf Halbtöne gegliedert. Die Geburtsstunde aller abendländischen Musik, sagen Experten. Von da bis zur Jahrtausendwende vergingen 639 Jahre. Genau so weit in die Zukunft sollte die langsamste aller Musikaufführungen reichen.

Seither sind gut 1,56 Prozent der angestrebten Spieldauer verstrichen, und die Halberstädter »Zukunftsmusik« hat ein fasziniertes Publikum gefunden. Zu Klangwechseln, die stets festlich inszeniert werden, kommen Zuhörer auch aus Schwaben und Hamburg; Journalisten aus aller Welt berichten. Viele staunen über ein Projekt, das keinerlei direkten Nutzen verfolgt, geschweige denn materiellen Gewinn anstrebt – und nicht nur dadurch völlig aus der Zeit zu fallen scheint. Während der Alltag vieler Menschen durch permanente Beschleunigung geprägt ist, Informationen im Übermaß in Köpfe fluten und Termindruck Herzen rasen lässt, wird in St. Burchardi das Tempo auf geradezu unfassbare Weise gedrosselt. Verrückt, sagen Besucher – und lächeln.

Klangjahr zu kaufen

Freilich: Auch ein Vorhaben, das derart über weltlichen Dingen zu schweben scheint, kann irdische Zwänge nicht abstreifen. Das Projekt sei »sicher, aber nicht gesichert«, antwortet Neugebauer auf die unvermeidliche Frage nach der Finanzierung. Zwar sind viele Besucher vom Anliegen so fasziniert, dass sie für 1000 Euro ein »Klangjahr« kaufen und dafür ein kleines Metallplättchen, das an eine umlaufende Schiene an der Kirchenwand angebracht wird, mit einem Spruch für die Ewigkeit versehen dürfen. Bis 2091 ist kein Jahr mehr frei, und auch danach sind viele vergeben. Dennoch reichen die Einnahmen kaum, um die Kosten von bis zu 30 000 Euro zu decken, die im Jahr anfallen – für den Strom, der die Blasebälge antreibt, für Veranstaltungen und nicht zuletzt die Heizung des baufälligen Herrenhauses, in dem die Stiftung untergebracht ist und eigentlich auch eine Cage-Akademie einrichten will. Öffentliche Förderung, sagt Neugebauer, gibt es nicht.

So war es ein harter Schlag, als am vorigen Heiligabend im dritten Stock des Herrenhauses ein Wasserrohr platzte. Für das Cage-Projekt hätte das beinahe das Aus bedeutet, sagt Neugebauer, der niedergeschlagen und den Tränen nahe war – bis er in der Kirche wieder das auf 639 Jahre angelegte Stück hörte. Da habe er sich, obwohl nicht religiös, als »Teil einer größeren Sache« empfunden, die überdauern werde – »auch wenn draußen etwas kaputt geht«.

Teil einer größeren Sache: Rainer O. Neugebauer, Kuratoriumschef des John-Cage-Stiftung, muss dafür sorgen, dass der Halberstädter Aufführung nicht das Geld und die Luft ausgehen. Fotos: dpa/Jens Wolf
Teil einer größeren Sache: Rainer O. Neugebauer, Kuratoriumschef des John-Cage-Stiftung, muss dafür sorgen, dass der Halberstädter Aufführung nicht das Geld und die Luft ausgehen. Fotos: dpa/Jens Wolf