Die Welt in Kopf und Bauch

Die Einsamkeit der Primzahlen von Saverio Costanzo

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Bestsellerverfilmungen lassen gewöhnlich einiges befürchten. »Die Einsamkeit der Primzahlen«, das Debüt des erst sechsundzwanzigjährigen Paolo Giordano, wurde 2008 allein in Italien 1,5 Millionen mal verkauft. Und nun gleich die Verfilmung von Saverio Costanzo hinterher. Wer vermutet da nicht einen leicht konsumierbaren Massenartikel?

Aber das stimmt hier nicht, diese Geschichte über Kindheit und (verhinderte) Liebe, über Einsamkeit, unaufhaltsames Altern und nicht alternde Sehnsüchte besitzt jene unaufklärbare Poesie, die einem lange nachgeht. Die Kindheit ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können? Manchmal aber verwandelt sich dieses Paradies in eine Hölle. Denn plötzlich ist die Zeitlosigkeit der Kindheit dahin, der Schutzraum zerbricht, Unschuld verwandelt sich in Schuld. Hermann Hesse hat in »Kinderseele« diese Entdeckung des Bösen als einen Schock beschrieben. Es sind kleine kindliche Verfehlungen, aber sie vertreiben für immer aus dem Paradies, das die Eltern behüten. Handlungen haben Folgen – manchmal lebenslang, so die schockartige Erkenntnis. Da erwachen dann Fragen, die man bislang nicht kannte. Sind andere, bin ich ein Verbrecher?

»Kindheitstage, ich will euch zurückrufen«, heißt es in Hermann Bangs »Das weiße Haus«. Was da als ein melancholisches Hineinträumen in heile Herkunftswelten gemeint ist, bleibt für die zwei Menschen, von denen »Die Einsamkeit der Primzahlen« erzählt, mit einer Beschädigung verbunden, an die sie täglich schmerzhaft erinnert werden. Alice ist seit einem Skiunfall behindert, ein Bein blieb gelähmt. Dass sie an diesem nebligen Tag überhaupt auf die Skipiste musste, war die Schuld ihres renommiersüchtigen Vaters. Der schickte sie auf immer gefährlichere Strecken, obwohl sie Angst vorm Skifahren hatte. Nun zieht sie ihr Bein nach – das macht Alice fortan zur Außenseiterin, die in der Schule keine Freunde hat und auch später in der Disco allein in der Ecke steht.

Mattia gilt als ein mathematisch hochbegabter Junge. Seine Zwillingsschwester dagegen ist geistig zurückgeblieben. Er kümmert sich jeden Tag um sie, aber einmal will der Zehnjährige sie nicht dabei haben. Da wird er zu einer Geburtstagsfeier eingeladen, und dieses eine Mal obsiegt der Egoismus in ihm. Er setzt seine Schwester im Park auf eine Bank und geht allein weiter. Als er sie nach Stunden wieder abholen will, ist sie verschwunden – und bleibt es für immer. Die Erschütterungen schließen beide Kinder von der Außenwelt ab, darüber können sie mit niemandem reden. Sie sind wie die Monaden bei Leibniz: fensterlos. Die Welt wird eng wie eine Gefängniszelle.

Der Titel »Die Einsamkeit der Primzahlen« für eine sich in schnellen (mitunter fast schon verwirrenden) Schnittfolgen und kleinen Szenen über ungefähr zwei Jahrzehnte fortbewegende Geschichte ist ebenso suggestiv wie treffend. Ein Sinnbild für die Unfähigkeit, aus dem Schatten früher Schuld herauszutreten. Primzahlen sind Zahlen die sich nur durch eins und sich selbst teilen lassen: Ihre Isolation scheint vorbestimmt. Aber etwas scheint diese beiden Menschen in ihrer Hermetik doch anzuziehen. Alba Rohrwacher (Alice) und Luca Marinelli (Mattia) tragen dieses Kammerspiel der Einsamkeit in jeder Sekunde. Da ist viel selbstzerstörerische Energie im Spiel. Alice wirkt magersüchtig (Alba Rohrwacher nahm über zehn Kilo während des Drehs ab), Mattia wird dagegen immer dicker. Gleichgewicht ist nirgends in diesem Puzzle aus lauter Welt- und Ichfragmenten, das beide nicht zusammensetzen können.

Das scheint ein durchaus überzeugender Zugang zu dieser Geschichte, die zuerst eine der Körper ist, in denen sich die Seele spiegelt. Beide voller Verletzungen, voller Destruktion. Saverio Costanzo über seine Art, die lebenslange Gegenwart der Kindheit im Leben dieser beiden Menschen zu erzählen: »Ein Film sollte den Ehrgeiz haben, seine Bilder im Unterbewusstsein des Betrachters zu verankern. Das geschieht nicht im unmittelbaren Augenblick, sondern zeitversetzt.« Derart ambitioniert wie hier erlebte man das krisenhafte italienische Kino schon lange nicht mehr.

Es gibt keinen Schlusspunkt in dieser Geschichte, in der Nähe immer durch ein Übermaß an Distanz verhindert wird. Aber doch, in diesen etwa zwanzig Jahren, in denen Alice und Mattia nie wirklich ein Paar sind, spüren sie mehr und mehr, wie eng ihre Leben aufeinander bezogen geblieben sind. Untrennbar? Irgendwann scheint auch für sie der Punkt gekommen, wo man Geschehenes zwar nicht zurücklässt, aber trotz seiner Gegenwart frei für eine Zukunft wird, die dann nicht mehr nur aus der Vergangenheit heraus bestimmt sein darf.

Eine hochsymbolische Situation wird durchgespielt: Die Welt innen, in Kopf und Bauch und dabei doch voll alltäglicher Präsenz. Es bedurfte zweier außerordentlicher Hauptdarsteller, diese lang anhaltende Gefühlsverwirrung glaubhaft zu machen.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal