Notizen aus Venedig

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.
Man glaubt es erst nicht: Die Chinesen erobern Venedig! Auf Murano stöhnt man schon lange über die billigen Imitate, die es sogar auf der alten Glasbläserinsel selbst zu kaufen gibt. Sieht fast so aus wie venezianisch und kostet nur einen Bruchteil. Was will der normale Kunde mehr? Und Venedig ist schließlich mit Schuld daran, dass Qualität nichts ist, was man in dieser Stadt sucht. Der schöne Schein ist Kopie. Das kennt man hier doch, nicht erst, seit der Campanile 1902 einstürzte und blitzartig wieder neu aufgebaut wurde – damit das Bild vom Markusplatz stimmt. Lange glaubte man hier, die Touristen fest in der Hand zu haben, aber nun zeigt sich: Die Touristen haben Venedig fest im Griff!

Die Via Garibaldi ist das einzige Stück Boulevard in Venedig. Napoleon sei Dank. Der ließ hier nicht nur massenhaft Kirchen abreißen, sondern auch Kanäle zuschütten (das ist der Fortschritt). Nun kann man hier auf einigen hundert Metern erproben, wie das in anderen Städten so ist. Man schlendert, man flaniert, man marschiert in ganzer Breite über den Boulevard. Tische stehen vor den Restaurants, es könnte in Venedig so sein wie überall, wenn Napoleon nur ein paar Jahre mehr Zeit gehabt hätte.

Aber nun kommen ja die Chinesen. Die ersten drei Restaurants zur Lagune hin werden bereits chinesisch bewirtschaftet. Es gibt dort keine chinesischen Gerichte, sondern Pizza und Pasta! Langsam werden die Venezianer

nervös angesichts dieser Asiaten, die so ganz das Gegenteil von ihnen sind: still, fleißig und freundlich. Und viel preiswerter! Wenn das kein Modell für die Welt von morgen ist.

Aber das Heute sieht eben doch noch anders aus. Unten in meinem Haus hat sich ein Skatclub eingemietet mit lauter älteren Herren. Im Schaufenster versammeln sich die verschiedensten Pokale. Vor vierzig Jahren gewann man Fußballtuniere und bekam original Murano-Glas mit Gravur. Jetzt begnügt man sich mit Kartenspielen, und das Glas sieht auch ziemlich chinesisch aus. Hauptsache siegen! An jedem Nachmittag hört man die lauten Stimmen der Altherrenriege, abends pünktlich um acht Uhr wird das Gitter heruntergelassen, dann geht man nach Hause. Neulich gab es Streit. Da standen dann lauter in sich verbissene Mitsiebziger mit hochroten Köpfen unter meinem Fenster, so dass ich schon fürchtete, es könne leicht den nächsten Todesfall für meine Kolumne geben.

Auf der Brücke sieht man immer die gleichen Paare und Passanten, was merkwürdig ist, weil doch hier vor allem Touristen vermutet werden. Aber das hier ist so etwas wie der Bühneneingang zur Via Garibaldi, hier geht lang, wer zu tun hat. Immer zur gleichen Zeit kommen zwei ältere Zigeuner, in weißen Hemden, schwarzen Hosen und glänzenden Schuhen; sie gehen mit ihren Akkordeons zur Arbeit vor den Straßencafés. Ich gebe immer Geld, weil ich den Eindruck habe, diese Musikanten gehören in Venedig zu den wenigen, die gern arbeiten. Neulich gab es lautes Getrampel auf der Brücke, ich stürzte zum Fenster und sah zwei Polizisten, die sich die Seiten hielten und tiefatmend auf ihre Schlagstöcke stützten. Wen sie da verfolgten, sah ich nicht mehr, ich muss auch mehr trainieren, man verpasst sonst immer das Beste. Die Verfolgung wurde abgebrochen, die Uniformen geradegerückt, der Schlagstock weggesteckt. Jetzt gehen sie ab, wieder ganz Repräsentanten der Ordnung.

An der Ponte de la tana sitzt immer ein Bettler, elegant eine Zigarette haltend wie in einem Straßencafé. Er kommt nur stundenweise, und irgendwie wirkt er so, als ob er mit seinem Hut nur dasitze, um die an ihm Vorbeiströmenden zu studieren. Wie reagieren sie, wenn er sie anspricht? Manche gehen vorbei und blicken einfach geradeaus. Andere zucken mit den Schultern. Manche bleiben auch stehen und suchen umständlich nach etwas Kleingeld. Ein ältere Frau stellt ihre Einkäufe in sicherer Entfernung ab, kramt ewige Zeiten in ihren Taschen und reicht ihm schließlich zwei Äpfel. Die hält er nun in der einen Hand und die Zigarette in der anderen, und er sieht aus wie ein Mensch, der die seltene Qual der Wahl hat.

Es gibt in Venedig ein Franziskanerkloster. Ein Pater des einstigen Bettelordens kommt, bleibt vor dem Bettler von heute stehen, kurzer Wortwechsel, dann fliegt etwas, das wie eine sehr kleine Münze aussieht, in hohem Bogen treffsicher in den Hut. Gelernt ist gelernt.

(Fortsetzung folgt)

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