Notizen aus Venedig

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Ich muss umziehen, man Ausweichquartier an der Ponte de la tana ist von jemand anderem gebucht. Den Vermieter der Wohnung habe ich gar nicht zu Gesicht bekommen, aber im Regal stehen Fotos von seiner Segeljacht. Mit der ist er gerade unterwegs. Wer mit ihm durchs Rote Meer fahren will, kann das tun, die Preise sind venezianischer Natur.

Daran erinnert mich diese Wohnung: an eine verdächtig gut aufgeräumte Schiffskajüte mit unübersehbar militärischem Einschlag. Die Bettwäsche wartet bereits portioniert und millimetergenau aufeinander gepackt im Schrank; Löffel, Messer und Gabel liegen so ausgerichtet, wie das die Hauptfeldwebel überall auf der Welt zu ihrem Lebensideal erklären. Solche Art Umgebung provoziert bei mir seit jeher schlampige Freude an der Unordnung. Aber am Ende siegt dann doch die Solidarität mit der Putzfrau.

Umzug von Castello, dem traditionellen Arbeiterbezirk ,nach Dorsoduro. Die neue Wohnung liegt genau in der Mitte zwischen Ca´Rezzionico und Zattere. Am Zattere-Ufer, Ponte Lungo 1471, landete Rainer Maria Rilke am 19. November 1907 in der bescheidenen Pension der Schwestern Romanelli. Mimi gefiel ihm besser als die Lage der Herberge: direkt am Hafen, auch gleich neben dem Industriegebiet. Mimi spielte sehr gut Klavier, war eine Schülerin Busonis, und Rilke verliebte sich sofort in sie – was noch zu heftigen Turbulenzen führen würde, weil die schöne Mimi gern von ihm geheiratet werden wollte. Später sorgte seine Duino-Gönnerin Marie von Thurn und Taxis für standesgemäßes Quartier in einem ihrer Palazzi am Canal Grande.

Heute parken gleich neben dem Zattere die Kreuzfahrtschiffe, eines dicht neben dem an

deren. Die Kreuzfahrer von heute sind wohl Massenpartikel einer seelenlosen Urlaubsindustrie. Aber auch vom Canal Grande hat mancher wohl allzu idyllische Vorstellungen. So soll kürzlich der Käufer einer der millionenschweren Villen gegen den Lärm auf dem Canal geklagt haben, den die vielen Schiffe und Menschen dort machen. So ist das, wenn man an einer Hauptverkehrsstraße wohnt, auch in Venedig. Und noch funktioniert Venedig – Gott sei Dank! – nicht völlig nach den Regeln eines Museums.

Doch tatsächlich, der Wechsel zwischen Lärm und plötzlicher Stille in dieser Stadt ist jedesmal wieder frappierend und geradezu beängstigend. Man biegt aus einer lärmenden Gasse in eine menschenleere und hört nichts mehr, man ist allein, dann biegt man nach einigen Schritten in eine weitere Gasse, die schmal und dunkel vor einem liegt, und innerhalb einer Minute hat sich alles verändert, man fühlt sich wie in ein Labyrinth geworfen, tastet sich mit angestrengt wachsamen Sinnen voran.

Das ist in Venedig so seit vielen hundert Jahren. Seitdem hat sich an der Wegführung kaum etwas geändert. Die meisten Häuser stehen seit dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert – noch. Die Gier der Venezianer, sich das Kreuzfahrtgeschäft nicht entgehen zu lassen, hat die Stadt in große Gefahr gebracht. So werden nun Tag für Tag die riesigen Touristentanker durch die Lagune bugsiert, die zu diesen Zweck tief ausgebaggert wurde. Das hat das natürliche System der Strömungen verändert und nun kommen regelmäßig das Hochwasser, es kommt von allen Seiten, drückt sogar von unten durch jede Ritze im Fußboden. Es scheint durch nichts aufhaltbar. Das »Moses«-Projekt helfen, ein künstlicher Riegel zum Meer. Wer das Wasser kennt, bleibt skeptisch.

Meine neue Wohnung ist vor allem alt. Von den unverputzten Wänden rieselt es ständig. Durch die dicken Balken der Decke ziehen sich tiefe Risse. Eine weiße Schicht, wie Salz, liegt auf dem Putz der Fugen, und wenn ich sie mit dem Finger berühre, fällt der Mörtel wie Sand zu Boden. Die Wohnung gehört einer älteren Pianistin, die anscheinend anderes zu tun hat, als ihre Wohnung aufzuräumen. Ich kann das gut verstehen. Hier bestimmen Geist und Staub die Atmosphäre. Alles ist voller ausgesuchter Bücher (auf italienisch), auch alte und kostbare dabei, jedoch so achtlos in Regale gestopft, wie es noch nie sah. Einige, deren Deckel mir doch zu arg gequetscht scheinen, befreie ich aus ihrer Lage, so können sie wenigstens halbwegs glatt auf den Stapeln liegen. Hinterher muss ich mir erst einmal die Hände waschen, es ist, als ob ich einen Keller aufgeräumt hätte.

Im Schlafzimmer steht ein Klavier, von dort schiebt man sich zwischen alten Schränken, Lampen, Spiegeln und überall gestapelten Büchern hindurch. Motten fliegen verdächtig zahlreich, doch mir gefällt diese Charme und Musikalität ausstrahlende Unordnung – ich muss hier ja nicht für immer bleiben.

Daran denke ich jedesmal, wenn ich die Tür zum kleinen Garten schließe, den eine hohe Mauer umgibt. Außer einigen Büschen wächst hier allerdings nichts, doch welch grüne Oase im Meer aus Stein! Jeden Abend verschließe ich den Ausgang erst mit einer dicken Holztür, dann einem Gitter und schließlich mit der Glastür. Alle Fenster haben Gitter und die Wohnungstür wirkt wie die eines Tresors. Wenn ich in der Unordnung die Schlüssel verlege, ergeht es mir wie in Storms »Bulemanns Haus«, und ich sitze hier für ewig gefangen.

(Fortsetzung folgt)

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