Notizen aus Venedig

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Hermann Hesse hielt nichts von Amerikanern, aber viel von Japanern. Diese Abneigung hier und Vorliebe da entsprach der Verkaufskurse seiner Bücher in den 50er Jahren. In den USA erwiesen sie sich als absolut unverkäuflich, auch darum waren die Amerikaner für ihn »vergnügte und genügsame Halbmenschen«. Von den Japanern dagegen fühlte er sich verstanden, sie seien seine besten Leser.

Was ich damit sagen will? Dass sich die Zeiten ändern. Die Amerikaner waren es, die in den 60ern mit der Flower-Power-Bewegung einen neuen Hesse-Boom auslösten. Aber was ist mit den Japanern los? Die jungen japanischen Europa-Touristinnen in Venedig sehen nicht nach »Steppenwolf«-Leserinnen aus, und auch Fukushima scheint gänzlich spurlos an ihren faltenlosen Gesichtern wie Hirnen vorbei gegangen zu sein.

Dagegen wirken plötzlich sogar die Amerikaner kulturtragend. In Japan scheint es ein Volkssport oder eher eine Sucht geworden zu sein, sich nicht nur stundenlang gegenseitig in den banalsten Posen zu fotografieren, sondern vor allem sich selbst. Das mag mal ganz amüsant sein, sich den Fotoapparat vors eigene Gesicht zu halten und auf den Auslöser zu drücken, aber wenn das – wie hier zu besichtigen – zur stereotypen Dauerpose wird, bekommt dieser inflationäre Narzissmus etwas Endzeitliches.

Auch auf dem Lido haben sie sich Zeiten geändert. Vorbei die Ära, da Samuel Fischer mitsamt den Autoren seines Verlages (jedenfalls allen, die gerade ein neues Buch unterbringen wollten) sich im Hotel De Bains für den ganzen Sommer einquartierte. Marlene Dietrich lief hier mit einem Band Rilke-Gedichten unterm Arm Remarque über den Weg, so dass dieser spöttisch fragte: »Ach, Sie lesen?« Worauf sie konterte, welches der Gedichte sie ihm denn aus dem Kopf vortragen solle. Ob in der sich dann anbahnenden Affäre Rilke noch eine Rolle spielte, weiß ich nicht. Das Hotel De Bains ist geschlossen, trotz heftiger Proteste wird es nun umgebaut in ein Appartement-Haus. Gegen die Logik des Geldes kam man mit Samuel Fischer, Thomas Mann, Marlene Dietrich oder Remarque nicht an, nicht einmal mit Visconti. Da passiert wieder, was auch mit Hesses Palazzo, der »Casa Camuzzi«, passierte: zerstört und zerstückelt für Profit. Aber im Moment ist die Baustelle verlassen, vielleicht fehlt es an finanzstarken Käufern.

Allerdings, der Strand vor dem Hotel wird weiter bewirtschaftet, die Badekabine in der ersten Reihe koste 200 Euro – pro Tag!

Nein, mit Denkmalen wie dem Hotel De Bains geht man in Venedig nicht zaghaft um. Davon glaubt man hier mehr als genug zu haben, ist immer viel zu gegenwärtig dabei, sich einen Vorteil zu sichern. Auch das hat Tradition. So steht vor dem Ospedale eines der wenigen Denkmale der Stadt, die solche Art von Personenkult sonst strikt vermied. Aber der Söldner Bartholomeo Colleoni, der 1475 starb, hinterließ Venedig sein ansehnliches Vermögen nur unter der Bedingung, ihm ein Denkmal auf den Markusplatz zu bauen. Gerade hier, undenkbar! Aber das Geld wollte man doch gern haben, so kam man auf den Einfall, ihm sein Denkmal vor das Ospedale zu bauen, wo sich die Scuola di San Marco befindet. Das ist doch auch ein Markus-Platz, befand der Stadtregierung.

Im Winter übrigens werden die Venezianer auf wundersame Weise freundlich, vor allem bei Hochwasser. Anscheinend spüren sie das Versinken ihrer Stadt und jeder Fremde ist plötzlich ein potenzieller Retter. Aber jetzt ist Sommer und ich brauche einen Retter, denn nach über vier Wochen ist mein Gepäck, das auf dem Hinflug schon schwer übergewichtig war, nicht mehr mit einemmal zu transportieren. Zumal durch die feucht-schwüle Luft in Venedig sich alle Sachen und auch das Papier der Bücher vollsaugen und damit noch schwerer werden. Die rettende Idee: ich schicke ein Bücherpacket mit der Post nach Berlin! Die Post in Venedig befindet sich am Rialto in der ehemaligen deutschen Handelsvertretung. Hier wurden in Venedigs bester Zeit die deutschen Händler quasi interniert. Sie durften nur unter Begleitung (sprich: Bewachung!) ausgehen. Venedig war ein Überwachungsstaat erster Klasse.

Beim ersten Mal muss ich umkehren, da die Post im August schon um 14 Uhr schließt. Beim zweiten Mal stehe ich in der Schalterhalle vor undefinierbaren Anzeigen an einer Leuchttafel. Jemand ist mitleidig und erklärt mir, dass ich hier eine Wartemarke ziehen müsse, mit dem Buchstaben meines Anliegens davor. »E« ist Einzahlung, »A« vermutlich Auszahlung – es gibt ein halbes Dutzend weiterer Buchstaben. Mein Buchstabe ist »P« wie Postsendung und dazu die Nummer. Ich habe die 96 und nach einer halben Stunde bin ich tatsächlich dran.

Die Bücher trage ich gleich bei mir, damit ich nicht noch einmal wiederkommen muss.

Was ich benötige, ist ein passender Karton. Der Mann am Schalter mustert den Umfang meiner Tasche, schüttelt den Kopf und schlurft davon. Er verschwindet für bestimmt eine viertel Stunde irgendwo in den Katakomben. Tatsächlich bringt er zwei Faltsätze für Pakete, nicht viel größer als Schuhkartons, andere hat er nicht. Ich bezahle sechs Euro und beginne in einer Ecke mit dem Zusammenbauen. Ich komme mir sehr clever vor, dass ich mir sofort eine neue Wartemarke hole. Aber nun rasen die Nummern voran und ich bin erst halb mit meiner Bastelarbeit fertig, als die Nummer 107 dran ist. Ich lasse sie ziehen, beschrifte sorgfältig die Felder mit Absender und Zieladresse, sogar die Telefonnummer muss man draufschreiben. Meine nächste Nummer ist die 116.

Ich schiebe meine beiden gelben Pakete über den Schalter, alles gut verklebt und beschriftet. Ich bekomme nun zwei Formulare ausgehändigt und ziehe eine neue Wartemarke. Die Formulare sind sehr umfänglich. Mit Nummer 134 bin ich wieder im Spiel. Jetzt beginnt die eigentliche Prozedur. Was ich da drin habe, will man wissen. Bücher! Keine Spirituosen, sonstige zu verzollende oder gefährliche Gegenstände?

Die Gefahr besteht, dass ich alles noch mal vorzeigen muss. Ich mache ein so überzeugendes Gesicht wie es mir möglich ist und die Postangestellte, eine grauhaarige Dame mit sorgenvoller Miene, bedeutet mir mimisch, dass sie mir eigentlich nicht glauben dürfte, aber nun mal unter der Schwäche leidet, zu großzügig zu sein. Es folgen weitere Formulare in mehreren Ausfertigungen. Die werden dann in Plastefolie eingeschweißt befestigt. Das wird aber keine versicherte Wertsendung, sondern hoffentlich die preiswerteste alle Paketsendungen? Die Dame nickt und arbeitet weiter an ihren Papieren. Es wird gewogen, zusammen 12 Kilo. Der Preis berechnet sich anscheinend aus sehr unterschiedlichen Parametern, denn die Dame reiht eine Zahlenreihe an die andere. Nach mehreren Minuten ist sie schließlich am Ende der Rechnung angekommen. Die Stempel knallen auf alles, was Papier ist. Nach gut 90 Minuten bin ich nun also die beiden Pakete endlich los – für 47,30 Euro! Ich weiß nicht, ob das viel oder wenig ist, ich brauche jetzt frische Lust. Aber eigentlich ist es für Venedig eher wenig.

(Schluss folgt)

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal