nd-aktuell.de / 25.08.2011 / Kultur / Seite 16

Der kluge Schwärzling

Keto von Waberer: »Seltsame Vögel fliegen vorbei«

Werner Jung

Eine Gattungsbezeichnung trägt das Buch nicht. Doch ist schon nach den ersten Seiten klar: Es handelt sich um einen autobiografischen Text, um die Kindheits- und Jugenderinnerungen der jungen K. – mehr oder minder chronologisch erzählt von den ersten, vagen Eindrücken bis zur 14-jährigen, frühreifen Göre, die ins Internat kommt.

Geschildert wird eine – zumeist – unbeschwerte Kindheit an der Seite einer älteren Schwester, in einem Elternhaus, das von einer überaus agilen, freundlich-fröhlichen Mutter geführt wird, die eine Schar jüngerer, aber auch älterer Menschen um sich zu versammeln versteht. Der Vater, ein viel beschäftigter Architekt, kann als Prototyp für die Aufbau-Generation und die Wirtschaftswunderjahre gelten. Denn Keto v. Waberers Erzählung ihrer Kindheit setzt unmittelbar nach Kriegsende ein und reicht bis Anfang der 60er Jahre.

Sie versteht es, auf elegante Art und Weise Generationstypisches mit ganz Persönlich-Individuellem zu verbinden. In ihrer weit verzweigten Familie mit Wurzeln in Südamerika wird vieles be- und verschwiegen, taucht der Zweite Weltkrieg nicht auf, ist das Schicksal der Juden kein Thema. Irgendwann fragt die Tochter ihren Vater nach dem Krieg: »Er sagt, er habe Fabriken gebaut, die Flugzeuge herstellen. Er zeichnet mir ein Flugzeug. Er zeichnet für mich einen Windkanal, in dem Flugzeuge getestet werden. Er ist ungeduldig, ohne das zuzugeben. Ich lasse von ihm ab. – Über den Krieg und alles, was geschehen ist, wird nie gesprochen. Die Erwachsenen ... bekommen schlechte Laune, das merkt man sofort ....« Einmal sah sie in einer Zeitung Fotos von Leichenbergen: Was da passiert sei? Solche Aufregung sei nicht gut für Kinder, sagte die Mutter. »Danach werden die ›schrecklichen Dinge‹ nicht mehr erwähnt.«

Das gilt auch für private Angelegenheiten. Vielsagendes Schweigen im Blick aufs Amouröse. Liebe und Sexualität – »mit uns hat das nichts zu tun, mit uns Kindern schon gar nicht. Die Liebe, die uns gilt, die Liebe meiner Eltern, ist die einzige Liebe, die zählt«. Oder es bleibt bei Andeutungen, im Vagen und bei Verdächtigungen, die den Streit unter den Eltern provozieren und die das Kind durch seine Entwicklung hindurch begleiten.

»Immer wie aus dem Ei gepellt« lautet der Wahlspruch des Vaters. Alles schön, rein und sauber, ganz auf der Linie der sich abzeichnenden Wohlstandsideologie: Wir sind wieder wer! Das Unangenehme wird unter den Teppich gekehrt. Dennoch: Die junge K. ist alles andere als brav und angepasst. Ein aufgewecktes, ja vorwitziges Kind, mit offenen Augen und Ohren nimmt sie ihre Umwelt wahr, sieht – auch wenn sie gar keinen Begriff dafür hat – den (Liebes-)Verrat des Vaters an der Mutter. Ein Deutschlehrer lobt früh die Aufsätze seiner Schülerin, attestiert ihr ein »Ohr für die Melodie der Sprache« und nennt sie zärtlich seinen »klugen Schwärzling«, bis dieser Schwärzling dann den Lehrer ob der nicht fruchtenden Nachhilfe in Sachen Zeichensetzung zur schieren Verzweiflung treibt.

Keto von Waberer hat einen wundervollen Text über ihre Kindheit geschrieben, einen Text, der ähnlich wie die autobiografischen Romane Helga Novaks, »Die Eisheiligen« und »Vogel federlos», erzählt ist, nämlich strikt aus der Perspektive des heranwachsenden Kindes, ganz auf dessen Wahrnehmungen und Beobachtungen konzentriert. Nur selten mischt sich einmal sehr moderat die erwachsene Stimme der späteren Schriftstellerin ein.

Keto von Waberer: Seltsame Vögel fliegen vorbei. Berlin Verlag. 224 S., geb., 19,90 €.