Die unbesetzbaren Biografien

Am Sonntag vor 50 Jahren begann die Arbeit an der wohl längsten Film-Geschichte der Welt – »Die Kinder von Golzow« von Winfried und Barbara Junge

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 2 Min.

Langzeitdokumentation. Entsetzliches Wort. Leblos. Wo es um so viel Leben geht. »Der gedehnte Blick« heißt ein Essay des Schriftstellers Wilhelm Genazino – und genau dies träfe besser auf das Kunst-Stück von Winfried und Barbara Junge zu: »Die Kinder von Golzow.«

Am Sonntag vor fünfzig Jahren hat es begonnen, und das Dorf im Oderbruch wuchs nach dieser ersten Klappe gleichsam Filmmeter um Filmmeter – es entstanden über vierhundert Kilometer Dreh-Material – in die Weltgeschichte des Mediums hinein.

Blick in zwei der vielen, insgesamt an die zwanzig Gesichter des DEFA-Filmmarathons: Marieluise Seidel (geb. Hübner), 1954 geboren, Chemielaborantin, Zahnarzthelferin; Bernd Oestreich, geboren 1955, Facharbeiter für chemische Industrie, Meister. Der gedehnte Blick der Dokumentaristen hat deren Werden und Sein, deren Warten und Fortgehn und Bleiben – festgehalten.

Schon in diesem geläufigen Reden davon, man halte filmisch, fotografisch etwas fest, zeigt sich die Spannung solch eines Unternehmens: Es fasziniert, weil Leben nicht wirklich festzuhalten ist. Die Prosa einer alltäglichen Existenz bezieht ihre wachsende Melancholie aus der Gewissheit des Vergänglichen. Der Zauber eines Moments besteht in seiner verschwimmenden Kontur. Wir schauen in diese Gesichter, der Wechsel der Zeiten liegt klar vor Augen, das Rätsel des Älterwerdens ist plötzlich keines mehr, aber trotz dieser Erkenntnis bleibt wunderbar rätselhaft, was wir da sehen. Einerseits ahnen wir die Fülle des Daseins, die sich auf Zeit-Räume verteilt – andererseits besteht es aus Wiederholungszwang; der Lauf der Jahre offenbart uns des Lebens Beweglichkeit wie dessen Stillstand im Kreislauf der Alltäglichkeiten.

Die Geschichte eines Landes ist die Geschichte seiner Bewohner. Aller. Und jede Biografie arbeitet einer geschichtlichen Tendenz zu, wie sie gleichzeitig, in noch größerem Maße, aller Abstraktheit widerspricht und zuwiderläuft. Geschichtsschreibung meint, just das logisch dokumentieren zu können, was eine Existenz, um zu einer ganz eigenen Wahrheit zu kommen, fortwährend – erfindet. Nach jenem Naturgesetz, das Zufall und Fügung auf unergründliche Weise in Beziehung bringt. Oft ist der Einzelne gegen seinen Willen Masse, und oft fällt die Masse gegen ihren Willen in Einzelne auseinander – so entsteht Gemeinschaft, Gesellschaft und zugleich beider Gegenteil: das Unteilbare, Unbesetzbare einer Biografie.

Dass man darüber nachdenkt, dem nachfühlt – das erhebt diese »Langzeitdokumentation« (einer der 100 wichtigsten Filme in 100 Jahren Filmgeschichte) zu einem, ja: Kunstwerk. Zu einem großen Roman. Und zwischen den »Kindern« und ihrem filmischen Bild existiert ein angenehm leuchtender Schein, der sich ausschließlich dem ästhetischen Vermögen der Autoren verdankt. Hier haben Vertrauen und Liebe, für den nachhaltig gedehnten Blick, lange und gut gemeinsam gewirkt.

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