nd-aktuell.de / 05.09.2011 / Kultur / Seite 15

Ai Weiwei: Im Netz

Hans-Dieter Schütt

Auf der Netseite von »Newsweek« hat der chinesische Künstler und Bürgerrechtler Ai Weiwei einen Text publiziert. Er schildert den Ort, wo er in diesem Jahr in Haft gehalten wurde. Eine Fabrik? Leer, dunkel, dämonisch.

Der Raum, aus dem er nach beinahe drei Monaten wieder entlassen wurde, hätte, so zwingend scharf schreibt es Ai Weiwei, auch der Raum sein können, an dem »sie« ihn hätten auspusten können. Ganz einfach. Zack, weg! Wer frage im asiatischen Kollektivismus nach nur einem Menschen. Es reiche in diesem System die schlechte Laune eines Beamten, da muss gar nichts aus höherer Funktionärsebene befohlen werden, im Gegenteil: Am besten, man mischt sich von oben nicht ein. Das ist doch ein Teilsinn der Partei, seit jeher. Generalsekretäre und andere Führer haben auch von vielem nichts erfahren. Der schöne letzte Satz auf verstummenden Lippen: Ach, wenn das Genosse Stalin wüsste …

Ai Weiwei lässt die Beschreibung seines Angstortes in eine Schilderung von Peking übergehen. Albtraum folgt Albtraum. Der Dämon Megapolis, in dem der Schwache, Ungelenke leicht zermürbt, verdrängt wird, wenn er nicht genügend Kraft und bürokratische Lobby hat. Es ist also wie überall auf der Welt – ist das der Anschluss des praktischen Kommunismus an die Moderne der so pulsierenden wie menschenzerstäubenden Stadt-Moloche?

Der Künstler schreibt von seiner Angst, nach draußen zu gehen, und sei es nur in den Park: Jeder ist sich mehr und mehr selbst der Nächste; man weiß nicht, was rettet – mehr Angst als der Nebenmann zu haben oder mehr Courage, die Angst zu verdrängen. Kafka chinesisch. Der Pekinger FAZ-Korrespondent, Mark Siemons: »Ein in seiner Ratlosigkeit so dringlicher, riskanter, notwendiger Text ist im Internet schon lange nicht mehr aufgetaucht.« Ai Weiwei: »Wer das in Freundgegenden Chinas liest, wird mich bezichtigen, ich übertreibe. Höhere Geschichtsbetrachtung macht kalt.«

Immer »übertreibt« einer, wenn er Gleichmaß, Ordnung stört. Klar war es übertrieben, dass Lenz an der Welt zugrunde ging, das war kein Beitrag zum Fortschritt, der in Weimar zu Hause war. Natürlich war es übertrieben, dass Hölderlin litt – muss man denn immer gleich auf miese gesellschaftliche Verhältnisse schließen, nur weil man mit sich selber nicht klar kommt? Muss man sich so auffällig gegen den Strom der Vielen stellen? Frage an Sie, Herr Heinrich von Kleist, Herr Ossip Mandelstam, Herr Alexander Solschenizyn, Herr Jürgen Fuchs, Frau Herta Müller?

Von Herta Müller stammt ein Satz zum Sinn des Schreibens. »Die Tatsachen hätten, als sie geschahen, die Wörter, mit denen man sie aufschreibt, gar nicht ertragen.«