»kein weg zurück, nur einer nach vorn«

Heute wird der Theaterkritiker Ernst Schumacher 90 – Auszüge aus unveröffentlichten Tagebüchern

  • Lesedauer: 7 Min.

Der graue Kopf ist über Jahrzehnte in den Zuschauerräumen speziell der Berliner Theater unübersehbar gewesen. Ernst Schumacher spaltete mit Schärfe und forderndem Verstand das Publikum. Seine besten Kritiken, die auch zu Büchern wurden, sind zeitverpflichtete Kommentare und übergreifende Essays zugleich.

Schumacher wurde 1921 im oberbayerischen Urspring geboren, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Geschichte in München und Leipzig. Der Professor für Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität (einer seiner Lieblingsschüler, den er gern für die Wissenschaft »gerettet« hätte: Frank Castorf) schrieb seit 1963 Kritiken in der »Berliner Zeitung«. Immer blieb es Brecht, dem er sich verpflichtet fühlte. Bücher wie »Die dramatischen Versuche Brechts von 1918-1933«, »Brecht, Theater und Gesellschaft im 20. Jahrhundert« und »Leben Brechts« (mit Renate Schumacher): Meilensteine einer konsequent marxistischen Analyse und Forschung.

Schumacher, der Römerkopf in Preußen, ist Bajuware – und gerade er hat stets dazu beigetragen, viele Ahnungen, die mit dieser geografisch-psychogrammatischen Kennung verbunden sind, zu bestätigen: Da ist felsiger Poltergeist, spezifischer Charme an der Grenzlinie von Nord und Süd, Kühle also und ebenso ein aufbrausendes Temperament.

Heute wird Ernst Schumacher, der auch Gedichte und Dramatik schrieb, 90 – wir veröffentlichen Auszüge aus bislang unveröffentlichten Tagebüchern 1999 bis 2011.

3. oktober 2000 (dienstag)

sogenannter tag der deutschen einheit. jetzt zum zehntenmal begangen. mir kalt am arsch vorbeigehend. das war sie nicht, die einheit, die ich gewollt habe. aber sie ist so geworden, weil wir unfähig waren, unsere einheit zu verwirklichen. also ein gerechtfertigtes, von der geschichte legitimiertes kleineres übel. ungefähr auf die stimmung bringbar, die heine so ausdrückte: »Wenn ich beseligt von schönen Küssen/ in deinen Armen mich wohl befinde (...) mußt du mir nie von Deutschland reden ...«

heiligabend 2001 (montag)

stefan heym ist 88jährig nach teilnahme an einer konferenz in jerusalem… in einem hotel am toten meer auf der treppe zum schwimmbassin ausgerutscht und schluckte sich an dem salzwasser des bassins, in das er fiel, im wortsinn den tod: … als jude aus nazideutschland vertrieben, als amerikanischer offizier ins besiegte nazideutschland zurückgekehrt, wegen des koreakriegs vom nachkriegsamerika sich abkehrend, in der ddr sein deutsches sozialistisches vaterland suchend, aber es nur in fragmentarischen brocken findend, unangepaßt, bei aller … eitelkeit mit politmoralischer stärke sich behauptend, niemals ein gesinnungslump, sondern standhafter zinnsoldat auch in den einbrechenden sturzwassern der deutschen vereinigung.

zu den schandbarsten reaktionen ihm gegenüber sollte die bezeigung blasierter mienen, höhnischer arroganz, dummdreisten vorsichhingrinsens besonders von kohl, bundeskanzler, gehören, als heym als alterspräsident den bundestag 1994 eröffnete, indem er an verständigung und versöhnung unter den deutschen appellierte ...

ach so, die soldaten des vereinten deutschland dürfen jetzt endlich nach afghanistan!

erstaunlicherweise druckte das feuilleton der »berliner zeitung« meine dialektische befindung ab, daß brecht durch den zusammenbruch des »real existierenden sozialismus« als politischer dichter scheinbar gänzlich widerlegt ist, aber durch den »real existierenden kapitalismus« in den meisten seiner stücke aufs neue und auf fortwährende weise wieder bestätigt wird. die folgerung für die rezeption ist freilich sehr unbestimmt: da der »ideale adressat«, den brecht im auge hatte, ein kämpfendes proletariat mit einer bewußten politischen führungsgarde, nicht mehr vorhanden ist (und in absehbarer zeit nicht mehr vorhanden sein wird), verbleiben als ansprechspartner nur groß-, in der mehrzahl kleinbürger, die überhaupt noch interesse daran haben, nicht auch noch im theater völlig »verblödelt« zu werden …

4. november 2002 (montag)

erster herbstschnee fiel gestern, das wetter entsprechend den allerheiligen- und allerseelentagen trübe, meine stimmung entsprechend. an allerseelen waren sie natürlich alle um mich versammelt, die mir, denen ich einmal etwas bedeutete(n), ihre gesichter schwer lesbar und deutbar, meine haltung ihnen gegenüber immer im gefühl, sie enttäuscht zu haben (...) ja, es führt kein weg zurück, nur einer nach vorne, aber so lange die armen seelen mitziehen, ist noch leben.

24. dezember 2002

(dienstag)

wider kritik an der »verlogenheit« des festes, wider die armenabspeisungen, wider das heuchlerische »frieden auf erden«, das heuer so ganz besonders widerlich ist, wo die ersten seiten der blätter wie sämtliche fernsehbildschirme übervoll sind bis zum ankotzen von dem offenen aufmarsch der us-armada ... kein zweifel, es ist wieder einmal »kriegsweihnachten«, auch wenn »die waffen (noch) schweigen«. es ist unglaublich, stimmungsdrückend bis niederschlagend.

2. Januar 2004 (freitag)

gestern, neujahr, in der früh im bad eine version der schillerschen »ode an die freude« mit der musik von beethoven gehört. schlagartig wurde mir bewußt: diese musik ist nachklang der französischen revolution, die marseillaise ist der geistige impuls; »allons enfants de la patrie« wird aufgehoben in »allons enfants de l'humanité«. es war eine großartige intonation des neuen jahres.

14. november 2004

(sonntag)

nie war ich mehr davon überzeugt, die richtige entscheidung getroffen zu haben, mich am ersten und für lange historische zeit einzigartigen versuch beteiligt zu haben, eine sozialistische gegenwelt gegen diesen durch und durch destruktiven kapitalismus – der nicht anders existieren kann denn als imperialistisch, ausbeuterisch, blutsaugend am leib der menschheit – zu schaffen. umso stärker aber auch gerade in diesen tagen der lobpreisung und seligsprechung von tagen, wochen und jahren der sogenannten historischen »wende«, in denen befreite klassen, völker, staaten sich selbst preisgaben, indem sie auf die verführungen des kapitalismus hereinfielen, meine noch größere wut über unsere mitschuld an diesem desaster – durch unwilligkeit und unfähigkeit, dem sozialismus »ein menschliches antlitz« zu geben.

30. januar 2008 (mittwoch)

der unsägliche tag der sogenannten »machtergreifung« durch die nazis, zum 75. mal gejährt!

was mich im hohen alter, nun in kenntnis von ausreichenden zusammenhängen, bedrückt, ist, wenn ich dieses tages gedenken soll, das unbehagen über die verbohrte haltung der kommunisten im gesamten reich, die laut anweisung der komintern unter ideologischer vorgabe durch stalin selbst noch um die jahreswende 1932/32 den hauptfeind nicht in den nazis, sondern in der sozialdemokratie zu sehen hatte; nicht weniger bedrückend, weil kaum anders zu sehen, die gleichrangige borniertheit der spd-führung unter wels, letztlich doch in den nazis das nunmehrige »kleinere übel« anstelle der kommunisten zu sehen.

30. november 2009

(montag)

ich missfalle mir selbst: ich bin unleidig geworden, ungeduldig, alles nervt mich viel zu schnell, bringt mich auf ... ich hab's einfach über. mehr als wahrscheinlich: das ganze noch verbleibende leben. ich muß bescheuert sein, so zu sein. aber es ist so ...

8. dezember 2009

(dienstag)

alfred hrdlicka gestorben. ein enragé der linken (der sich auch in alten tagen noch als stalinist bezeichnete und es für mumpitz hielt, zu glauben, der sozialismus könne ohne gewalt entstehen und ohne sie auskommen). als maler wie als graphiker nicht weniger bedeutend denn als bildhauer. er kann wenigstens einige in stein gehauene erinnerungswerke hinterlassen, die es schwer machen, darüber nicht nachzudenken.

9. september 2010

(donnerstag)

in christa wolfs »stadt der engel« auf das gedicht heines gestoßen: »Ich hatte einst ein schönes Vaterland,/ der Eichenbaum/ Wuchs dort so hoch, die Veilchen nickten sanft./ Es war ein Traum.«

irgendwie griffen die vier zeilen an mein herz. ich hatte auch einen traum von deutschland, empfand mich bis auf den heutigen tag wie im exil, besonders aber so richtig erst nach der sogenannten »wende«. die ddr mochte ganz und gar unvollkommen sein, aber es war der entwurf eines anderen, neuen deutschland. ich verließ wegen dieses traums meine oberbayerische heimat und finde mich nun zurückversetzt. nein, eigentlich ausgesetzt wie moses im binsenkörbchen. dieses heutige »neue deutschland« ist das uralte, mir zu gut bekannt ... ein vaterland, dem ich nicht entrinnen kann, dies auch nicht möchte, aber das mir innerlich fremd ist, weil ich einen anderen traum von ihm hatte.

29. märz 2011 (dienstag)

blendende, wolkenlose blaue frühlingstage! Das herz muß einem aufgehen, das (noch) erleben zu können. ich bin mir dessen wohl, sehr wohl bewusst.

Heute 19.30 Uhr, Probebühne des Berliner Ensembles: Hermann Beil und Schauspieler des BE lesen aus den Tagebüchern von Ernst Schumacher.

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