nd-aktuell.de / 12.09.2011 / Kultur / Seite 4

Intelligenz

Roger Willemsen erhält den Julius-Campe-Preis des Verlages Hoffmann und Campe

»An der Grenze« hieß, vor zwanzig Jahren, sein erster Gesprächsband, eine Niederschrift der täglichen TV-Porträtreihe »0137« – Befragungen von Attentätern, Bankräubern, Mördern, politischen Gefangenen, Todeskandidaten und Gewaltopfern. Willemsen – da hatte er schon eine Laufbahn als Literaturwissenschaftler und Übersetzer hinter sich – nunmehr als Voyeurist in absonderlichen, gespenstischen, unartigen Geisteswelten und somit auf der Spur jenes Dämonischen, das der menschlichen Natur untilgbar beigegeben bleibt. Prominente hat er dann in eigenen Sendungen (»Willemsens Woche«) befragt, in erregender Mischung aus bedrängender Intelligenz und offen präsentierter Leidenschaft für Verehrung. Irgendwann muss so einer unweigerlich zum Einzelkämpfer der trotzig behaupteten kleinen Quote werden. Seltsame Erscheinung vor der Kamera: redet bestes Deutsch, hat Gedanken, ist witzig und lässt sich lieber hochmütig nennen, als sich herabzulassen ins Seichte.

Willemsen sendete sich souverän seiner Selbstauflösung im grellen Leitmedium entgegen. Hörte auf, um nicht als exotischer Markenartikel zu enden, als letzter Indianer eines in die Nacht versprengten, gleichsam ins Programm-Nichts verbannten Geistes. Längst hatte er in Büchern (»Hier spricht Guantanamo«, »Afghanische Reise«) und Filmen (»Non Stop – Michel Petrucciani«) mehr zu sagen, als nur immer auf jedem dritten Podium zu sitzen, »als Hebamme, um die Meinungen anderer ins Licht zu bringen«.

Er warte, so der 1955 in Bonn geborene Reporter und Essayist, auf den Musterprozess gegen jene, die den festgelegten Aufklärungsauftrag des Fernsehens täglich verraten. Ein Verrat am Anspruch: auch für Minderheiten zu wirken, kritische Reflexion zu betreiben, Informationen zum Zwecke der Herzensbildung zu senden. Stattdessen diese elende Anbiederung an »geistweichen Zonen der Gesellschaft« und eine show-wuchernde telekratische Maschinerie, die allein aus dem heftigen Grad ihrer Verbreitung schließt, sie verkörpere Demokratie.

Der Preis, den er nun für seine »einzigartige Vielseitigkeit« erhält, besteht aus 99 Flaschen Wein und der Faksimile-Ausgabe der »Französischen Zustände« Heinrich Heines. Hans-Dieter Schütt