nd-aktuell.de / 19.09.2011 / Politik / Seite 7

Zwei Versionen von Solidarität

In Wroclaw tagten EU-Finanzminister und demonstrierten Gewerkschafter gegen Sozialabbau

Julian Bartosz, Wroclaw
Wroclaw war am Wochenende der Nabel des europapolitischen Geschehens. Zum einen trafen sich dort die EU-Finanzminister, zum anderen protestierten am Sonnabend laut Veranstaltern 40 000 Gewerkschaftler aus vielen Staaten Europas gegen den mit der Sparpolitk einhergehenden fortschreitenden Sozialabbau.

Der europäische Gedanke war am Wochenende in Wroclaw lebendig: »Ja zur europäischen Solidarität, zur Arbeit und zu Arbeitnehmerrechten« und »Wir fordern das Recht auf würdevolle Arbeit«, hieß es auf Transparenten bei der Großdemonstration, zu der der Europäische Gewerkschaftsbund zusammen mit den polnischen Gewerkschaftsbünden Solidarnosc und OPZZ aufgerufen hatte.

Mit der Manifestation brachten die Teilnehmer ihren Unmut über die verheerende Politik der wahren Krisenmacher, nämlich der Banken und der ihnen willigen Regierungen, zum Ausdruck.

Der friedlich verlaufende Demonstrantenzug vom Olympiastadion bis zum Ring in der Innenstadt dauerte über drei Stunden. Ein Halt war vor der Jahrhunderthalle geplant, in der seit Freitag die Finanzminister aus 17 Staaten über einen »solidarischen Stabilitätspakt zur Krisenbewältigung« tagten. Die hatte sich derweil schon frühzeitig aus dem Staub gemacht – die Jahrhunderthalle war leer. »Was für Politiker sind das, die Angst vor Menschen haben«, sagte der Chef der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc, Piotr Duda, der Nachrichtenagentur PAP. Das Wort »Solidarität« kursierte in Wroclaw offensichtlich in zwei sich gegenseitig ausschließenden Versionen.

Trotz Problemen in einzelnen Ländern ist die Schuldensituation in Europa nach Ansicht des Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB) insgesamt besser als in anderen Industrieländern. Im Ganzen sei die Lage »ermutigend«, sagte EZB-Chef Jean-Claude Trichet nach dem Treffen der EU-Finanzminister. Bei der Tagung hatte der US-Finanzminister Timothy Geithner die Europäer aufgefordert, mehr zur Bekämpfung der Schuldenkrise zu unternehmen. Der deutsche und der belgische Finanzminister hielten den USA im Gegenzug vor, die größte Schuldenlast der Welt zu tragen.

Alle polnische Medien berichteten rund um die Uhr über die Finanzministerkonferenz, die Gewerkschaftsdemonstration erschien lediglich für wenige Sekunden am Ende der TV-Nachrichten.

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