nd-aktuell.de / 24.09.2011 / Kultur / Seite 25

Das Wort der Opfer

Ulrich Schacht:

Lieber Slavik ... die weitergehende Geschichte löscht die dramatischen Geschichten all jener nicht aus, die sie mit ihr, der großen Geschichte, die zuletzt über alles hinweggeht, schmerzhaft erfahren haben. Sie sind in der Welt, und sie bleiben es: so lange, bis diese Menschen für immer verstummen. Damit sie nicht vorher verstummen, bei lebendigem Leibe, was wie ein kaltes Verbrennen wäre, haben wir Rücksicht zu nehmen, bis in den letzten Bedeutungswinkel des Wortes: auf jeden Einzelnen von ihnen und das, was sie felsenfest wissen und uns ein ums andere Mal sagen, sagen müssen.

Dieses in den Seelen petrifizierte Wissen mit auflösender Logik anzugehen, einzubetten in abstrahierende Rationalitätskonstrukte oder die inflationalistisch wirkende Konsequenz reiner Statistik, um nicht dem Fatalismus zu verfallen, ist gewiss auch notwendig. Aber die Kälte, die solche Operationen in den Seelen der Opfer, um die es hier geht, geradezu zwangsläufig verbreiten, muss unentwegt gemildert werden durch die liebende Zuwendung an jeden Einzelnen von ihnen, mit dem Bekenntnis: Ich habe dein furchtbares Gefühl nicht; aber ich glaube ihm, seinem schrecklichen Grund ... Rede. Ich höre. Und werde auf meinem weiteren Weg das Gehörte nicht überhören, nicht vergessen, nicht auslöschen ...

Es geht nicht um mögliche Lehren aus der Geschichte, deren Wirksamkeit man ohnehin bezweifeln darf, es geht um die wirklichen Stimmen, zu denen ein Mund gehört, ein Gesicht, ein Leben. Ein ganzer Mensch, sein unbestreitbares Schicksal.

(aus dem besprochenen Buch)