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Feuer im Land der Brandstifter

Im Ballhaus Naunynstraße bleibt »Perikizi« die moralische Siegerin

  • Lesedauer: 3 Min.
Auf wie ungewöhnlich poetische Weise hier Realität und Fiktion zusammentreffen, wie das Stück viele Schicksale in einer Figur bündelt, Generationen überspannt und so Historie abhandelt, das gibt »Perikizi«, über den künstlerischen Wert hinaus, so etwas wie dokumentarischen Charakter. Denn die Geschichte vom naiven türkischen Mädchen, das partout in Deutschland Schauspielerin werden möchte, basiert auf einem autobiografischen Roman. Emine Sevgi Özdamar, Jahrgang 1946, hat ihn 1998 unter dem Titel »Die Brücke vom Goldenen Horn« publiziert und nun zum Theaterstück verdichtet.
Die Parallelen der beiden Frauen sind unübersehbar. Mit 12 stand Özdamar erstmals auf einer türkischen Bühne, ging mit 19 nach Deutschland, um dort in einer Fabrik zu stranden. Nach einem Schauspielstudium in Istanbul wurde sie, beeindruckt von Heine und Brecht, Regieassistentin an der Volksbühne, bei Langhoff und Besson. »Karriere einer Putzfrau« indes hieß ihr erster Text. Seit 1979 spielt sie in Theater und Film, schreibt Romane, Erzählungen und Lyrik. Bachmann, Hasenclever, Chamisso, Kleist, Fontane, Zuckmayer sind Namensgeber von Preisen, die sie zwischen 1991 und 2010 errang; seit 2007 gehört sie der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an.
Von einer ähnlichen Karriere träumt Perikizi, übt an der Rolle der Titania: Mit ihr möchte sie die Bühne erobern. Das Abitur wirft sie dafür weg, legt sich mit der Familie an. Dass die Berliner Erstaufführung im Ballhaus Naunynstraße mit Michael Ronen ein Israeli verantwortet, der mit Tuncay Kulaoglu auch die Spielfassung schuf, verleiht dem Stück ebenso zusätzliche Authentizität wie die fünf Darsteller mit türkischen respektive jugoslawischen Wurzeln. Die Ausstatter Sylvia Rieger und Sophie du Vinage entwarfen für das fantasievolle Clownsspiel eine Halbmanege, um die herum die Zuschauer sitzen und über der ein Ring baumelt: Spiegel und Perikizis Traumhaus.
Schwermütig erzählt ihr die Großmutter, wie sich einst die Armenier von der Brücke gestürzt haben: Wir waren Nachbarn. Wie ihr erster Mann nach dem Krieg starb, sie seinen Bruder heiratete, der Lesen und Schreiben lehrte, von den Gendarmen abgeholt wurde und nie wiederkehrte. Mit dem dritten Gatten aber, der ihr den ersten Orgasmus schenkte, würde sie gern im Paradies leben. Perikizi, eine Strumpfpuppe über dem Arm, stets ein Shakespeare-Zitat zur Hand, rät sie ab, ins Ausland zu gehen: Leb mit und stirb bei deinen Toten, meine Worte sollen eine Mitgift wie zwei Ohrringe sein. Die Mutter erinnert, wie sie das schwächliche Baby schon ins Grab gelegt hatte, es dort gesundete. Perikizi, Feenkind, ist seither ihr Name. Du wirst wie Odysseus aus Einsamkeit zum Niemand schrumpfen, mahnt der Vater. Ich will nicht eure Toten, sondern meinen eigenen Traum, kontert das Mädchen sorglos und noch voller Kraft, bei aller Fixiertheit doch mit klarem Blick.
Auf dem Flug nach Europa, der Zugfahrt nach Deutschland treffen sie zusammen, Perikizi und ihre Feenwesen. Aber sie haben so ganz andere Gestalt als erwartet. Grell geschminkt, mit Perücke gleichen sie albtraumhaften Typen. Huren sind sie allesamt, die den Glauben an Glück verloren haben, auch durch den Balkankrieg fahren, sich in Deutschland als Arbeiterinnen verdingen wollen. Freiheit fällt wie Regen vom Himmel, lachen sie Perikizis Ideale weg. Die pariert mit Shakespeare, schreit »Europa, ich komme!«
Eine Puppe erteilt Perikizi Geschichtsunterricht: wie das Land zum Reich der Schornsteine umgestaltet wurde, nach der Hölle das Haus zum Spekulationsobjekt geriet, die Enkel der einstigen Feuerstifter nun wieder Menschen Feuer unterm Hintern machen.
Nevzat Akpinar und Jorgos Psirakis begleiten musikalisch leis das allegorisch überhöhte, dicht gefügte Spiel. Auch wenn nicht jedem türkischen Mädchen in Deutschland Perikizis Schicksal droht, bewegt die Fülle der Gedanken und Bilder, sprachlich wie inszenatorisch. Elmira Bahrami als Titelgestalt, geradlinig und unbefangen, bietet die überragende Leistung des Abends, die der Mittzwanzigerin eine freudvollere Zukunft sichern dürfte.

Wieder 29.+30.9., 6.-8.10, 14.-17.11., Ballhaus, Naunynstr. 27
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