nd-aktuell.de / 08.10.2011 / Brandenburg / Seite 10

Supermarkt der Weltkulturen

Der Choreograph Lemi Ponifasio verwirrt zum Auftakt des Festivals spielzeit'europa

Tom Mustroph
Schamane oder Scharlatan? Szene aus Lemi Ponifasios »Le Savali: Berlin«
Schamane oder Scharlatan? Szene aus Lemi Ponifasios »Le Savali: Berlin«

Wie ein Sturmwind eroberte der samoanische Schamane und Choreograph Lemi Ponifasio in den letzten Jahren die nach Neuem und Exotischem lechzenden europäischen Festivalbühnen. Nur recht war es daher, dass die Chefin des Tanz- und Theaterfestivals spielzeit'europa, Britte Fürle, im letzten Jahr ihres Wirkens einen Auftrag für eine Eigenproduktion an Ponifasio vergab und damit auch ihren prominent bestückten, mehrmonatigen Theater-Reigen im Haus der Berliner Festspiele eröffnete.

Leider erfüllte das mit einer Vielzahl von Performern aus den verschiedensten Kulturkreisen erarbeitete »Le Savali: Berlin« nicht die hochgesteckten Erwartungen. Von Ponifasio, der gern mit Reflexionen über das »gemeinsame Band aller Menschen« philosophiert, hatte man aufgrund der ihm zugeschriebenen spirituellen Reputation kaum weniger als ein multikulturelles Erlösungsszenario erhofft. Das war überzogen, gewiss. Aber hatte er nicht »ein Ritual« angekündigt, »das die Gemeinschaften der multikulturellen Großstadt Berlin mit ihren Erfahrungen in dieser Stadt konfrontiert«? Anstelle des bang erhofften Unmöglichen lieferten er und seine für diese Produktion neu zusammengestellte Truppe einen zumindest eindrucksvoll zusammengefügten Spaziergang durch den Supermarkt der Markenprodukte der Weltkulturen ab. Es gab Anlehnungen an fremdartig anmutende Kriegsrituale und bekannter wirkende Drillszenarien. Ein Teufelsgeiger trat auf. Auf eine Art, die Europäer gelernt haben als fernöstlich zu klassifizieren, wurde das Tempo aus der Performance herausgenommen. Kreuzigungs- und Fruchtbarkeitsszenen waren zu sehen. Eindrucksvoll war die Selbstopferung eines mit langem Genital versehenen nackten Mannes, der seinen Körper auf einer riesigen geneigten Bodenplatte auf und abwarf und bei jedem Aufprall Trommelklänge erzeugte, die von Kontaktmikrofonen aufgenommenen und geradezu gewaltig verstärkt wurden.

Überhaupt war der Raum bemerkenswert gestaltet. Nur wenige Striche Licht streiften durch die Finsternis. Sie holten mal hier ein Körperteil heraus, während der Rest der Leiber in der Dunkelheit oder in einer gerade noch erahnbaren Zwischenwelt verschwand. Immer wieder wurden neue Lichtbahnen über die Bühne gelegt und ordneten den großen Raum in einer Art, in der ein Tätowierer seine lebendige Leinwand den Regeln der Geometrie unterwirft.
Was Ponifasio auf diesem visuellen Fundament jedoch anrichten ließ, mutete willkürlich und beliebig an. Bedeutungsschwer wurden Bewegungs- und Ritualzitate verschiedenster Kulturen übereinander gelegt. Als zum Finale ein Dudelsackspieler, eine Akkordeonistin und der in den Vorankündigungen als besonderer Reiz gern herausgestrichene bulgarische Frauenchor die Bühne betraten, mochte man sich des Eindrucks nicht erwehren, als hätte sich der Choreograph wie ein experimenteller Musikethnologe verhalten, der ein paar Beispiele seiner Sammlung ritueller Praktiken herauszieht und sich daran erfreut, sie in neue Kontexte zu setzen. Weil abendländische Klangkünstler dies gern mit indigenem Kulturgut zun, könnte man Ponifasio noch einen schlauen anti-neokolonialen Gestus unterstellen.
Den Eröffnungsabend in seiner Gesamtheit zu deuten fiel allerdings schwer. War man selbst nur nicht bereit für die große Botschaft? Oder saß man nicht eher einem geschickt mit Wort- und Bewegungshülsen agierenden Blender auf, der angesichts des schwankenden Kriterienbodens so manchen kuratorischen Entscheidungsträgers ganz fröhlich aufspielen kann? Vielleicht ist Ponifasio aber auch ein Magier, dessen Tun sich nur gegenwärtigem Verständnis entzieht.
Oder er ist Illusionist, ein Künstler, der behände mit den Luftgebilden in den Köpfen seines Publikums zu spielen vermag – und als solcher das Motto der diesjährigen spielzeit'europa eben ganz besonders interpretiert. »Veränderbare Welten« heißt dies. Festivalleiterin Fürle leitete daraus die Aufforderung ab, »vor dem Hintergrund der unabsehbaren Folgen von Naturkatastrophen und politischen Umwälzungen eine zersplitternde Welt als verbunden und ganz zu denken«.

An dieser schönen Vorgabe arbeiten sich in den nächsten Wochen u.a. der italienische Regie-Shootingstar Antonio Latella (mit Koltès' Weltverzweiflungsmonolog »Die Nacht kurz vor den Wäldern«), die Londoner Tanztruppe DV8 mit einem Stück zu Redefreiheit und Zensur im Islam und weiterhin die ausgewiesenen Großkünstler Sasha Waltz, Peter Sellars und Romeo Castellucci ab. Man wird sehen, mit welchen Ergebnissen. Die Messlatte ist durch den