nd-aktuell.de / 11.10.2011 / Kultur / Seite 39

Linkes Erbe

TROTZKI

Karl-Heinz Gräfe

Die Erfahrungen mit dem Stalinismus im weiten wie engeren Sinne umfassend zu analysieren und mit dem weltweiten Ringen um eine andere Welt zu verbinden, sind für das Selbstverständnis einer sich sozialistisch oder kommunistisch nennenden Partei unverzichtbar. Insofern ist es auch verständlich, dass marxistische Historiker seit zwei Jahrzehnten verstärkt alternativen Strömungen und Fraktionen in der sozialistischen und kommunistischen Bewegung größte Aufmerksamkeit schenken. In Russland selbst ist die Schar jener, die sich dem theoretischen und politischen Erbe der bolschewistischen Revolutionsgarde zuwenden, indes klein.

Dem Historiker Wadim S. Rogowin (1937-1998) ist eine siebenbändige Geschichte der antistalinistischen Opposition zu verdanken, die nun auch komplett in Deutsch vorliegt. Der die Edition unter dem Titel »Gab es eine Alternative?« abschließende Band »Trotzkismus« schildert die Entstehung der linken Opposition und deren Kampf gegen die stalinistische Fraktion in der bolschewistischen Partei in den Jahren 1923 bis 1927. Rogowin offeriert Tatsachen, die in der sowjetischen Propaganda und Historiografie verschwiegen oder verfälscht wurden. Er weist nach, dass die Mythen und Lügen Stalins die Entstalinisierung in der »Tauwetterperiode« unter Chruschtschow überlebten und das Wesen des Stalinismus mit dem Slogan »Überwindung des Personenkultes« weiterhin verschleiert wurde. Auch Gorbatschows Entstalinisierung mit Glasnost und Perestroika blieb in der zeitlich kurzen »Bucharinschen Alternative« (NÖP) stecken und endete schließlich im Übergang zur kapitalistischen Restauration unter dem gewendeten Kommunisten Jelzin sowie in einer allgemeinen Verteufelung des Marxismus und des bolschewistischen Erbes.

Eine der Ursachen für die Entstehung des Stalinismus sieht Rogowin in der Herausbildung der Nomenklatura, die letztlich das stalinistische Herrschaftssystem ermöglichte, die bolschewistische Partei und die Sowjetmacht ihres anfänglichen Pluralismus beraubte. Dabei verkennt Rogowin allerdings, dass schon Lenin mit seinem Fraktionsverbot den Pluralismus beschnitt. Eine weitere Ursache für den Stalinismus sieht Rogowin in den unreifen gesellschaftlichen Verhältnissen Russlands und der kapitalistischen Umkreisung des ersten Sowjetstaates. Dennoch sei die Sackgasse, in die der Stalinismus führte, seien vor allem die ungeheuren Verbrechen in der Zeit des Großen Terrors, nicht mit der Revolution von 1917 vorherbestimmt gewesen.

Wadim S. Rogowin: Trotzkismus. Gab es eine Alternative? Bd. 1. Mehring Verlag. 454 S., geb., 29,90 €