Ein Haus für Chamisso

In Kunersdorf, wo der »Peter Schlemihl« entstand, gibt es wieder einen Musenhof

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 7 Min.
Chamisso, Radierung von F. T. Kugler
Chamisso, Radierung von F. T. Kugler

Plötzlich war er allein, die Freunde verschwunden, der Krieg nicht mehr aufzuhalten. Das Volk, getragen von vaterländischer Begeisterung, stand auf, Napoleon zu verjagen, nur er, Adelbert von Chamisso, Spross eines lothringischen Adelshauses, 1781 geboren in der Champagne, in den Revolutionswirren 1792 mit der Familie erst nach Lüttich, dann nach Preußen geflüchtet und seit kurzem Student der Zoologie, Anatomie, Physiologie, Mineralogie und Botanik in Berlin, stand ratlos und zerrissen zwischen den Fronten, ein Franzose, der noch kein Deutscher, und ein Deutscher, der kein Franzose mehr war. Was sollte er tun? Freund Fouqué hatte sich sogleich einem Jägerbataillon angeschlossen, Julius Eduard Hitzig, sein engster Vertrauter, ließ sich im Schießen unterrichten, Schleiermeier, Iffland, Fichte und Schadow eilten auf die Exerzierplätze, Eichendorff und Theodor Körner verstärkten das Freiwilligenkorps des Majors von Lützow. Und überall schmetterten sie patriotische Gesänge. Zuerst hatte Chamisso ja noch gehofft, sich in dieser »rasenden Zeit« fein heraushalten zu können. »Brenne und massakriere, wer da Lust hat«, schrieb er, »vor der Hand seziere ich die Toten und lasse es dabei bewenden«. Doch dann trieb es auch die Professoren und Studenten zu den Waffen, die Universität schloss ihre Pforten, und Chamisso, vollends isoliert, zog sich »in Demut zurück«.

Er wechselte im Mai 1813, vermittelt vom Gründer des Zoologischen Gartens in Berlin, nach Kunersdorf (damals noch Cunersdorf), ein stilles Dorf am Rand des Oderbruchs, einen Katzensprung von Wriezen entfernt. Dort residierte auf einem Gut, gerühmt wegen seiner vorbildlichen Landwirtschaft, der ehemalige Geheime Staatsrat Peter Alexander von Itzenplitz, verheiratet mit der Tochter der Helene Charlotte von Friedland, einer segensreichen Frau, die im abgelegenen Nest nicht nur moderne Produktionsmethoden eingeführt, sondern auch immer wieder prominente Gäste in ihr Haus geholt hatte. Chamisso war in Kunersdorf bestens aufgehoben. In »Unthätigkeit gebannt«, schrieb er an Varnhagen von Ense, »bring' ich den Sommer bei dem Herrn von Itzenplitz auf seinen Gütern zu ? und beschäftige mich allein mit Botanik.« Bekleidet mit einer polnischen Husarenjacke, auf dem Kopf ein altfranzösisches Samtbarrett, mit Botanisiertrommel, Pfeife und Tabaksbeutel zog er durch Wälder und Wiesen, sammelte Kräuter, untersuchte die Wasserpflanzen, ergänzte das 1803 erschienene »Verzeichnis der auf den Friedländischen Gütern cultivierten Gewächse« und half auch noch bei der Ausbildung des Landsturms.

Nebenbei aber (und mehr aus Langeweile) schrieb er. Er saß im Bibliothekszimmer des Herrenhauses am Fenster, vor sich den sommerlichen Park, und entspannte sich bei einer fantastischen Geschichte mit einem armen Schlucker im Zentrum, der durch Geld zu Ansehen kommen will und auf die Idee verfällt, für das Säckel, aus dem er sich immerfort bedienen kann, seinen Schatten herzugeben. Er nannte die Mär, die ihre Bezüge zur Wirklichkeit nie verschleiert, »Peter Schlemihls wundersame Geschichte«. Sie war eigentlich nur gedacht, um Hitzigs Kinder ein wenig zu unterhalten und wurde sein erfolgreichstes Buch. Als Chamisso Kunersdorf im Oktober 1813 wieder verließ, war das kleine Meisterstück fertig. Es erschien 1814, herausgegeben von Fouqué, anonym in Nürnberg, und es dauerte eine Weile, bis sich herumsprach, wer der Verfasser war.

Theodor Fontane fand im September 1862 beinahe alles so vor, wie es Chamisso gesehen hatte. Er widmete Kunersdorf ein langes Kapitel im »Oderland«-Band seiner »Wanderungen«, musterte das Schloss aus dem 18. Jahrhundert, warf einen ausgedehnten Blick in die Historie, würdigte die Bewohner des Gutes, die Wohltaten der Frauen von Friedland und die landwirtschaftlichen Initiativen des Gutsherrn von Itzenplitz und vergaß natürlich nicht, von Chamissos Sommeraufenthalt zu erzählen. Das dreigeschossige Schloss stand bis 1945, wurde in den letzten Kriegstagen zerstört und abgetragen, im Park wurden Unterkünfte für Landarbeiter und Umsiedler gebaut, das einst herrschaftliche Anwesen, unkenntlich geworden, dämmerte jahrzehntelang dahin, bis drei Frauen, die Grafikerin Margot Prust, die Lehrerin Marion Schulz und die Pädagogin Inge Bärisch, sich in die noch erhaltene, in vier Wohnungen aufgeteilte Schloss-Dependance verliebten und beschlossen, dem Ort seinen verlorenen Glanz wiederzugeben. Margot Prust verkaufte das eigene Haus in Neuenhagen und opferte alles Ersparte, im Dezember 2005 wurde das Gebäude und der riesige, verwahrloste Garten erworben, die Frauen spuckten, unterstützt von Freunden, jungen und älteren Helfern, in die Hände und rackerten bis zur Erschöpfung, allein der Traum vom neuen Musenhof hielt sie einigermaßen bei Kräften.

Heute, sagen die Frauen, die hier inzwischen ihr Lebenszentrum haben und den kleinen Findling-Verlag betreiben, kann sich niemand mehr vorstellen, wie es noch vor Jahren hier aussah. Das Haus, neugeboren, leuchtet in der Sonne, der Garten, mühselig entrümpelt und vom wuchernden Gestrüpp befreit, ist eine weite, gepflegte Wiese, überall Obstbäume und Ziergehölze, dazu, verteilt über das ganze, etwa neuntausend Quadratmeter große Areal, die Leihgaben Berliner und Brandenburger Künstler, Plastiken von Horst Engelhardt, Roland Rother oder Werner Stötzer. Gleich hinter der Mauer die Kuppelkirche, auch sie 1945 zerstört und 1951 neu erbaut, und hinten, an der Nordseite des ehemaligen Küchengartens, eine architektonische und künstlerische Attraktion: die Grabkolonnade von Kunersdorf, ein kostbares Ensemble des Klassizismus mit neun Nischen und den Denkmalen für die hier Bestatteten, darunter die Frau von Friedland und Angehörige der Familie Itzenplitz, geschmückt mit Reliefdarstellungen von Gottfried Schadow, Friedrich Tieck und Christian Daniel Rauch.

Zwei weitere Denkmale stehen im ehemaligen Schlosspark, einem von Lenné entworfenen denkmalgeschützten Ensemble. Das eine, ein modernes Obst- und Früchtedenkmal, erinnert an Helene Charlotte von Friedland, »eine seltene und ganz eminente Frau«, wie Fontane sagt, die, selbstbewusst und verpflichtet den Ideen der Aufklärung, seit 1789 über die Güter wachte und führende Geister hier versammelte: die Brüder Humboldt, den Staatskanzler von Hardenberg, den Verleger Friedrich Nicolai, den Juristen Savigny, Goethes Freund Zelter oder den Agrarreformer Albrecht Daniel Thaer. Das andere Denkmal ist Chamisso gewidmet, der in Kunersdorf jetzt ein Haus hat, das seit ihrer Gründung im April 2010 auch Sitz der Chamisso-Gesellschaft ist.

Der Musenhof, ausschließlich privater Initiative, dem Einsatz und Geschick eines Häufleins unerschrockener Idealisten zu danken (von staatlichen Stellen kam kein einziger Euro), betreut allein von den drei tatkräftigen, nach all der Plackerei nun sehr glücklichen Frauen, steht Besuchern an den Wochenenden (und nach Absprache auch werktags) offen. Seit 2007 kamen über zweitausend Gäste im Jahr, mal zu einer Lesung oder einem Vortrag, mal zu einer Lyrik-Nacht oder einem literarisch-musikalischen Abend, einer Ausstellung, einer Adventsfeier oder auch nur, um sich mal umzusehen, die meisten voller Neugier auf dieses brandenburgische Juwel, auf seine Stille und Schönheit und auf diesen berühmten Dichter, von dem man seltsamerweise immer noch zu wenig weiß. Im Haus ist seit kurzem eine kleine Exposition zu sehen, bestückt vor allem mit verschiedenen Ausgaben des »Peter Schlemihl«, darunter dem Erstdruck von 1814, einer Leihgabe, dem Prachtband des Leipziger Reclam-Verlages mit den Farbholzschnitten Ernst Ludwig Kirchners oder den Übersetzungen aus dem Russischen oder Englischen. Da kann man sich die Lust holen, dem deutschen Franzosen oder französischen Deutschen, diesem fantastischen Erzähler Adelbert von Chamisso endlich näher zu kommen.

Für Thomas Mann, der ihm einen großen, rühmenden Essay gewidmet hat, gehörte »Peter Schlemihl« zu den »liebenswürdigsten Jugendwerken der deutschen Literatur«. Die Geschichte, die da entstand, so schrieb er, »erhielt unter den Händen eines Dichters die Eigenschaften, eine Welt zu ergötzen«. Überall in Europa las man sie, und in Deutschland, wird berichtet, soll einer außer sich vor Vergnügen und Spannung gewesen sein, als sie ihm vorgelesen wurde, ein Meister er selber: E. T. A. Hoffmann.

Als Chamisso Kunersdorf verließ, machte er es wie sein Held, der noch immer ohne Schatten war, ausgegrenzt von der Gesellschaft und nunmehr entschlossen, sein Heil in der Wissenschaft zu suchen. Er hörte in Berlin wieder Vorlesungen und ging im Juli 1815 an Bord eines russischen Schiffes, das zu einer Weltreise aufbrach. Im Oktober 1818 kam er zurück, schloss sich den Serapionsbrüdern um E. T. A. Hoffmann an, er heiratete die Pflegetochter seines Freundes Hitzig, schrieb Gedichte, gründete und betreute den »Musenalmanach«, widmete sich weiter der Botanik, fand nun Anerkennung als Poet und Wissenschaftler, wurde 1819 Ehrendoktor der Berliner Universität, Adjunkt am Botanischen Garten und bald darauf Mitglied mehrerer naturforschender Akademien. Er übersetzte Strophen des französischen Liederdichters Béranger und publizierte 1835, angeregt vermutlich vom Expeditionsbericht Georg Forsters, das Tagebuch seiner »Reise um die Welt«. Drei Jahre später, im Sommer 1838, starb er in Berlin. 1891 hat man ihm auf dem Monbijouplatz ein schlichtes Denkmal gesetzt.

Der Kunersdorfer Musenhof, wo sich seit 2011 das Chamisso-Literaturhaus befindet
Der Kunersdorfer Musenhof, wo sich seit 2011 das Chamisso-Literaturhaus befindet
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