nd-aktuell.de / 17.10.2011 / Kultur / Seite 15

ANTJE VOLLMER: Achtundsechziger

Marginalien zum KLEIST-JAHR 2011

Der antiautortäre Impuls, dieser Ansturm gegen klassische und traditionelle Normen gehörte zum Urimpuls der Studentenbewegung und erzeugte »68« eine intuitive Nähe zu Kleist als Vorbild für die eigene Motivlage. Das Gerechtigkeitsideal von Kleist war war absolut und duldete keine Relativierung. Eine Gesellschaft, die nicht durch Gerechtigkeit überzeugte, hatte es verdient, zugrunde zu gehen. Zumindest musste sie das durch Rebellen verursachte Chaos hinnehmen, wenn sie ihre Kritiker schon nicht überzeugen konnte. In dem Sinne waren die 68er nie Realpolitiker, sondern Romantiker. Sie interpretierten Kleist zu Recht als Ihresgleichen. Kleist erschien als der, der das Unmögliche versucht: sich selbst aus eigenen unabhängigen Wurzeln neu zu gebären. Auf der Suche nach sich selbst, hat er sich immer neu erfunden, in immer neuen Projekten. Dass nicht alle diese Projekte alltags- und lebenstauglich waren, wie das Beispiel seines Bauernhofs in der Schweiz zeigt, sprach nicht dagegen. Was zählte, war der Überschuss an gesellschaftlicher Kreativität und Utopie. Die Leichtigkeit, mit der das so wenig überzeugende traditionelle Lebensmuster verlassen werden konnte, verstärkte die Hoffnung auf ein neues Leben als einzige, immerwährende Neuinszenierung, Kleist war ein Himmelsstürmer, die 68er wollten es auch sein, mit mutigem, tapferem, oft übertriebenem und immer romantischem Eifer.

War Kleist ins Scheitern verliebt? Waren die 68er ins Scheitern verliebt? Ist die grundsätzliche Bereitschaft, sich von allem Herkömmlichen zu lösen, reine Destruktion, oder ist sie reine Kreativität aus dem Nichts? Es ist beides. Und so beantwortet sich auch die Frage nach der Tauglichkeit von Kleist als Vorbild für die Lebensentwürfe der 68er.

Entscheidend ist immer, welche Kraft überwiegt, die destruktive oder die kreative. Ohne seine andauernde Radikalität hätte Kleist seine großen Werke nicht schreiben können.

(Aus: die horen 243, 3. Quartal 2011. Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven)