nd-aktuell.de / 29.10.2011 / Kultur / Seite 32

Zeit

Zeit

So wandelt sie, im ewig gleichen Kreise,
Die Zeit nach ihrer alten Weise,
Auf ihrem Wege taub und blind,
Das unbefangne Menschenkind
Erwartet stets vom nächsten Augenblick
Ein unverhofftes seltsam neues Glück.
Die Sonne geht und kehret wieder,
Kommt Mond und sinkt die Nacht hernieder,
Die Stunden und Wochen abwärts leiten,
Die Wochen bringen die Jahreszeiten.
Von außen nichts sich je erneut,
In dir trägst du die wechselnde Zeit,
in dir nur Glück und Begebenheit.
Johann Ludwig Tieck


Sommerzeit wechselt am Sonntag zur Winterzeit. Es ist der alljährliche Ritus eines Missverständnisses: Der von uns selbst betriebene Angriff auf die biologische Uhr - er erweckt den Eindruck, wir könnten beherrschen, was wir »die Zeit« nennen. Wir reden vom Zeitregime, meinen damit aber, das Regime seien: Wir. Wir sind es aber nicht.

Mit der Erfindung der Zeit haben wir unser Leben wundervoll geregelt und es zugleich verhängnisvoll besiegelt. Wir stürzen uns japsend zu Tode mit lebenslangen Sprüngen durch irgendwelche Zeitfenster. Wir fürchten uns davor, Zeit totzuschlagen und schlagen uns selber tot mit Trubel und Terminsucht.

Aus politisch vollmundigen Veranstaltungen tönt es gern: Die Zeit ist reif!, unsere Zeit wird kommen! Nein. Nie arbeitet die Zeit für den Menschen (schon gar nicht für Parteien); nie gibt es einen wirklichen Grund für ein: Es ist vollbracht!; nie wird die Zeit kommen, welche … Wie aber geht man damit um, für eine Utopie zu kämpfen und um die eigene Endlichkeit zu wissen? Wie zornig macht die verfluchte Ungerechtigkeit, dass man alle Spannkraft aller Jahre letztlich nur summiert, um hilfebedürftig und abhängiger denn je zu enden? Kann, wem der Inquisitor Zeit bewusst wird, wirklich noch frei, heiter mit ihm umgehen?

Jene Uhr, die ihr gnadenloses Abberufungsurteil im Sekundentakt ausspricht - sie hängt nicht sichtbar an einer Wand. Und wem die Stunde schlägt, der muss nicht unbedingt auch das Ende dieser Stunde erleben. Die Zeit ist unser unbesiegbarer Feind, und ein großer Makel unserer Beschaffenheit besteht darin, dass wir diese Tatsache erst im unglücklichsten Augenblick glasklar begreifen. Dann nämlich, wenn es für die Änderung des Lebens - angestoßen durch das Erschrecken über dessen Kostbarkeit und Unwiederbringlichkeit - schlichtweg zu spät ist.
Hans-Dieter Schütt