nd-aktuell.de / 05.11.2011 / Kultur / Seite 24

Mit Fußbank?

Volksabstimmung, Solidarität, Shakespeare ...

Hans-Dieter Schütt

Das griechische Referendum findet nicht statt. Vielleicht war seine Ankündigung tatsächlich nur ein demagogischer Akt. Aber eine Schockwelle ging dennoch durch Europa. Die höheren, verhandelnden, beschließenden Kreise der Europäischen Union hielten den Atem an. Deren Gemütsbeben verriet einiges über Stand und Wert des landläufigen demokratischen Gefüges - ein Gefüge, bestimmt von trotzig schnurrendem Parlamentarismus und einem in diesen Hohen Häusern nur noch arrogant und ratlos wirkenden Stellvertretertum. Plötzlich schien es für eine Sekunde ausgehebelt, für nichtig erklärt, angreifbar.

Auch wer im Grunde wenig von den Untiefen und Wirren der europäischen Finanzierungstechniken und deren Krise weiß: Dies Athenerwort von der Volksabstimmung, für oder gegen das engschnürendste Loch im Haushaltsgürtel - es klang, als würde alsbald eine höchst enthemmende Droge freigegeben. Schon gab Deutschlands vielsagendste Kultureinrichtung, die BILD-Zeitung - zuständig für Freigänge des grob Unterschwelligen im Nationalempfinden -, laute Straßengeräusche wieder: Das wollen wir auch! Dies klingt freilich nicht wie ein Wollen, es hat bereits den dumpfen Rohton eines entschiedenen Vollzugs »von unten«: Dem byzantinischen Europa kein Geld!

»Soll ich das Volk denn auch noch fragen, ob es den Weg zu geh'n sich wagt, der in sein Leiden führt?«. Oder: »Reiz nicht das Volk mit dem Befehl, es möge denken, dich könnte tödlich treffen, was dieses Denken dann in Umlauf schickt!« So heißt es bei Shakespeare. Und Camus' Caligula hat nur vor einer Sache Angst: vor einem Volk, das »plötzlich groß wird durch freiwilligen Verzicht auf unverdiente Vorteile«, denn: Solcher Verzicht stellte Moral wieder her und also die üble Königspraxis in Frage - und spräche so das Abschaffungsurteil.

Wahre Bürgerschaft in einer Demokratie - eine Utopie - besteht nach Tocqueville darin, dass jeder sich die Empfindungen des anderen erschließen kann; es gibt kein Elend mehr, das nicht jeder mühelos begreift. Der den Menschen beherrschende Eigennutz verträgt sich demnach mit dem Mitgefühl. Voraussetzung für eine solche Verfeinerung der Sitten ist freilich eine Gleichheit, die allerdings in Geldgesellschaften zur großen Unmöglichkeit geworden ist. Und: Diese Gleichheit funktioniert höchstens als Feinfühligkeit im Innern eines Reiches oder einer Ordnung (wie man speziell an der sehr selbstbezogenen US-amerikanischen Demokratie und ihrem relativ teilnahmslosen Blick auf die übrige Welt sehen kann) - Anteilnahme nach außen ist zumeist eine erzwungene, falsche, erpresste Milde. Zu beobachten im jetzigen Moment auch in Europa, da schmerzende Solidarität mit Griechenland auf der Tagesordnung stünde, aber im Pulk der schirmenden Ausländer jener mutige Schritt Papandreous' doch merklich verflucht wurde. Der politische Kontinent, auf dem Papier ein großes mehrstaatliches Innen, steht im Krisenfall in Gefahr, schnell wieder in nationale Ego-Zentren zu zerfallen. Es wird zwar darum gerungen, den Börsenwert des knisternden Scheins zu wahren, zugleich aber kann man nicht mal mehr den bloßen Anschein einer wirklichen Zusammengehörigkeit wahren.

Europa zu denken und dabei eine Anwartschaft auf Konfliktfreiheit anzumelden, wäre nicht Naivität, sondern Ignoranz. Diese Konfliktfreiheit wurde aber von Beginn an fatal leichtfertig behauptet und mit festgezogener ideologischer Folie versehen, übrigens schon im sozialistisch wirtschaftenden Gefüge des Ostblocks, und eben jetzt in der »Europäischen Union«. Diese besagte Ignoranz gegenüber den komplizierten (finanziellen, immateriellen) Tatsachen liebt daher Brechstangen, um sich zum schöngeredeten Erfolg durchzuschlagen. Derzeit heißt die Brechstange Hebel, an dem hätte beinahe Griechenlands Volk gesessen. Das Angstzetern in Berlin oder Paris oder anderswo offenbarte jedenfalls schlimmste Befürchtungen angesichts der möglicherweise bevorstehenden Abstimmung in Athen; dies Zittern ist die Logik einer überheblichen politischen Denkungsart, die grundsätzlich das zahlende Volk für niedrig und unberechenbar und dumm verkauft.

Europas eigentlicher Niedriglohnsektor liegt just in diesem blamablen, staatspolitisch geschürten Dummenverkauf. Nun guckte man selber dumm aus der Wäsche: Der Souverän - den zu repräsentieren man doch in die Parlamente gebeten wurde -, sollte ausgerechnet am Ursprungsort der Demokratie wieder selber seine Stimme proben, die er bislang nur immer abgab? Ein kolossaler Vorgang, ein nicht ungefährlicher zudem, denn klar ist: Das Volk ist ein Lümmel, wie Heine schon wusste. Wo hohe Geister träumen, dass der Verstand das wahre Vaterland sei, dort ist die Rolle des Volkes seit jeher eine zwiespältige; Tugend und Tumbheit: extrem Getrennte, die doch Zwillinge sind.

Es blieb bei der Ankündigung einer Volksabstimmung, elektrisierend wirkte die Botschaft allemal, die Drohung drang in die regierenden Knochen. Aus ungutem Grund, der sich mehr und mehr bis in die inneren Zirkel der Verantworter herumspricht. Denn wenn es einen europäischen Sparkurs gibt, der über allem Euro-Streit einzuschlagen wäre, dann ist es eine wie immer zu erzwingende Abkehr von der landläufigen unfähigen Politikerkaste, die mit Fußbank vor den hohen Mauern des Finanzkaiserreiches steht, sie entschlossen zu überwinden. Diese Vertreter eines erkalteten Demokratiestandards und eines von Partikularinteressen angefressenen, fatal lobbyistischen Parlamentarismus kann und muss sich Europa sparen!