Schon Weihnachten?

  • Mathias Wedel
  • Lesedauer: 3 Min.
Flattersatz: Schon Weihnachten?

Ich weine nie! Die Partei neuen Typs hat mich zu Härte gegen mich selbst erzogen. Zuletzt weinte ich, als ich meinem Kater Josef Wissarjonowitsch in den Birnbaum nachstieg, um ihn aus einer Astgabel zu befreien, dann aber da oben auf die Freiwillige Feuerwehr warten musste, die mir morgens um 3 eine Leiter anstellte.

Doch am Sonntag schoss mir die pure Feuchte ins Gesicht und trieb mich zu Schluchzern, als sei ich Supertalent bei einem Jodelcasting. Die Frau, die mit mir auf meinem Sofa saß, tippte fröhlich auf Pilzvergiftung. Ich aber deutete - die Rührung hatte mir die Sprache verschlagen - auf das Fernsehbild: die Bundeskanzlerin! Sie verkündete soeben das größte Steuergeschenk an die deutschstämmigen Untertanen seit der Abschaffung der mittelalterlichen Salzsteuer anno 1993. »Ja, ist denn schon Weihnachten!«, rief die Frau, die mit mir auf meinem Sofa saß, ungesund lebensfroh aus. Sie solle sich emotional nicht so verausgaben, sagte ich, sondern sich die Freude einteilen, die müsse sie nämlich bis in den Wahltag im Herbst 2013 tragen. Über diesem intensiven Dialog hätten wir beinahe das Wichtigste verpasst: Frau Merkel sagte, sie verstehe die allgemeine Abschaffung knechtender Steuern vornehmlich als Dankesabstattung - Dank an die fleißigen Werktätigen dafür, dass sie das letzte halbe Dutzend Kapitalismuskrisen klaglos durchgestanden haben.

Dass wir das noch erleben dürfen! Ich stellte mich hinter die Übergardine und ließ meinen Tränen freien Lauf. Ja, Ulbricht und Honecker hatten sich auch stets bei den Arbeitern, den Geistesschaffenden und den »Ingenieuren der Seele« (also den verbündeten Pfarrern) bedankt. Aber für Frau Merkel waren wir bisher nur Leute gewesen, die jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt und »unseren Kindern« (die Kinder gehören nämlich der Regierung, deshalb braucht die Kanzlerin keine eigenen!) Jahr für Jahr höhere Schulden hinterlassen. Sie machte uns ein verdammt schlechtes Gewissen. Als wir dann an der europäischen Lohnuntergrenze angekommen und aus einstigen Facharbeitern vagabundierende, kariöse Leiharbeiter geworden waren, wurde manchmal ein Murren laut. Dann hieß es, Murren gefährde die Exportweltmeister-Pole-Posischen des Vaterlandes und damit dringend notwendige Extraprofite der Kapitalisten.

Und da war es wieder still. Sehr still. Die Milliarden wanderten zu notleidenden Banken oder Milliardären mit dringend notwendigem Unternehmermut. Zwischendurch wurde versichert, dass wir unser Sparbuch im Prinzip behalten dürfen. Dann wanderten die Milliarden nach Griechenland, wo es unzählige Ruinen gibt, die man der Reihe nach besichtigen kann, um dann mit einem Brechdurchfall zurück nach Hause zu fliegen. Die Milliarden würden nur pro forma bereitgestellt, hieß es, sie seien nicht wirklich weg - erst, wenn die Griechen sie bräuchten. Aber dann wären sie auch nicht richtig weg, sondern bei den Griechen.

Es muss ein komisches Volk sein, das sich all das gefallen lässt; ein Volk, das zwei Weltkriege nicht nur verloren, sondern auch angezettelt hat, das sich aus purer Gutmütigkeit die Ossis auf den Hals geladen hat, die wiederum erst vor 20 Jahren die Erfahrung machten, dass Rebellion vom Regen in die Traufe führt. Ein Volk, das sich nichts traut, weil Europa für die Konzerne ja so wichtig ist und weil man das »Mutti« Merkel einfach nicht enttäuschen will.

In der Zwischenzeit blockierten Spanier, Italiener und Griechen schon Straßen und behinderten die Müllabfuhr. Die Engländer verwüsteten Shopping Malls. Auch in Berlin brannten ein paar Autos und ließen hoffen - das war aber nur der Fleiß eines verrückten Einzeltäters.

Die Frau und ich, wir wissen natürlich, dass die Dankesgabe der Kanzlerin vor allem eine Verpflichtung für die Zukunft ist. Denn wie heißt es in jedem System? »So, wie wir heute stillehalten, werden wir morgen leben!«

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