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Witzig und nihilistig

Günter Kunert: »Die Geburt der Sprichwörter«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Günter Kunert hat in seinem langen Dichterleben erzählende Prosa geschrieben, Filmdrehbücher, Hörspiele, Reisetagebücher, aber seine Domäne waren neben den Essays stets die Gedichte und die literarische Miniatur, das fragende, fragile Notat, das kristallin gebaute Gleichnis. Als erarbeite sich da einer, mit Texten von der flüchtigen Schönheit und dem harten Schrecken gewisser Momente, einen Wesenskern von Ewigkeit. Als buchstabiere da einer die Wrackteile der verschiedenen Wirklichkeiten aus der täglichen Informationsschwemme heraus, um sie lesbar zu machen.

Dieser Dichter ist ein Schattenkundler, ein Vergänglichkeitskenner. Er hat beim Hinausschauen aus Fenstern unweigerlich den End-Blick, und beim Hineinblick in den Zusammenhang der Dinge schwindet ihm verlässlich die Hoffnung auf gute, also bessere Aussichten. Aber Kunert, ein Eichmeister der Schwermut, schreibt nicht fatalistisch, er schreibt nihilistig. Hohe, weil wahrhaft menschliche Kunst: gleichgültig zu sein ohne Zynismus und leidenschaftlich zu werden ohne Begeisterung. Seine Bosheit ist die des intelligenten Witzes, und der Witz ist allemal die überlegenste Ausdrucksform der Hilflosigkeit: Er pocht im Herzen der Finsternisse so schüchtern wie tapfer auf sein gutes närrisches Dennoch.

Mit diesem Band »Die Geburt der Sprichwörter« legt Kunert eine Art Zettelkasten vor, der Beträchtliches von dem summiert, was der Autor seit 1964 »absichtslos« aufschrieb, »im Einzelnen glaubhaft brauchbare Teile, die doch zu nichts nütze gewesen sind«, Bruchstücke, Geschichtenanfänge, Träume, Skizzen, Parabeln von der Insel Dahlak und dem Reiche Osmositan und dem Magister Tinius, notiert alles »zur Entlastung des bedenklichen Augenblicks, des unruhigen, verselbstständigen Denkens, das sich nach außen manifestieren muss, um zur Ruhe zu kommen.«

Es kommen Eskimos vor, Androiden; es wird gefragt, was wohl geschehen wäre, hätte sich Odysseus bei seiner Ankunft auf Ithaka, bei Frau und Freiern, um nur Weniges verspätet; er denkt über Steine, Kindheit und Ideologien nach, und immer befragt Herr K. sich selbst, steht als Beobachter neben dem eigenen Schreiben. Zwischendurch Zitate, von Lassalle oder Wagner oder Amery oder Kafka oder Gorki und vielen anderen, dazu Sprichwörter, Jägerlatein, Zeitungsmeldungen, und sogar ein altdeutscher Zauberspruch: »Es werde Vernunft!« Nun, wir wissen, was Zauberei ist: Illusion, Trick, Lüge, falsches Versprechen, das die Gläubigen mit Täuschung hintergeht.

Aus steinharten Gegebenheiten schlägt Kunert Funken erhellender Einsicht, aber er tut's mit Augenzwinkern: Denken ist wonnevoll - aber doch lediglich, weil es uns die Mittelmäßigkeit unserer Gedanken ertragen lässt. Kunert macht sich gern klein, denn er geht nicht gern durch offene Türen, wo es doch das Schlüsselloch gibt, um hinter die Dinge zu kommen. Er bekennt sich zur Ohnmacht gegenüber der Welt, aber er tut es mit einem Stolz, der wie ein zurückerstatteter Rest der längst aufgehobenen Gattungsgröße wirkt. Einer Gattung mit verhängnisvollen Sehnsüchten nach dem Absoluten, mit Expansionsneurose, und vor allem: mit Drang nach dem ewig gültigen Geschichtsgesetz, dessen Finder und Vollstrecker man natürlich selbst ist. Und dies, bitteschön, im Namen einer übergeordneten Ratio. Kunert notiert seine Einfälle auf der Rückseite der vermeintlichen Ruhmesblätter: »Man kann auch Irrtümer wissenschaftlich begründen.«

Revolutionen etwa, Ordnungsumstürze welcher Art auch immer, waren ihm nie als Mittel akzeptabel, um gesellschaftliche Übel zu beseitigen - nicht zuletzt, weil am Ende jeder Revolution auch bloß die Neu-Entdeckung eines alten Grundübels steht, das durch keine politische Technik zu beseitigen ist: Die Menschen sind nicht gleich, sie bleiben ungleich, und so wächst mit jeder radikalen Gesellschaftsumwälzung nur übliches Erfahrungsmaterial, es wächst jener offenbar nicht zu besiegenden Wahrheit des Geschichtlichen zu: Bei der Veränderung von Welt und Mensch geht es meistens nur um die entscheidende Nuance zwischen missglückt und misslungen.

Im Grunde kreist Kunert um einen lebenstreibenden und zugleich existenzbedrückenden Widerspruch: dass der Mensch - bestürmt von gewaltrufenden Heroen, heißen Geschichtemachern, falschen Helden und verführerischen Mythen - ein verteidigungswertes Grundrecht darauf hat, bedeutungslos zu sein, er doch aber gleichzeitig nach einem Ausdruck sucht für seine Einmaligkeit, seine Unwiederholbarkeit und seinen Sinn. Das macht anfällig für Kollektivismen, also paradoxerweise genau für jene Strukturen, die die Freiheit des Einzelnen ausnahmslos zerreiben.

Dort, an solchen Schweißnähten, wo das Unvereinbare mit dem Unvereinbaren merkwürdige Koalitionen eingeht, wo nicht mehr erkennbar ist, ob einer etwas ausgräbt oder etwas verscharrt, dort siedelt Kunerts Einbildungskraft. Um alles Absurde, Tragische, Wahn-Witzige auf die Pointe hin zu lenken, die alles Verhaltensmögliche in sich birgt: Erschrecken, Gelassenheit, Staunen, Verzweiflung.

Einer der trefflichsten Sätze müsste als ein unablässig leuchtendes Transparent über jeder Politikerrede hängen, und es wäre garantiert die Vernichtung der meisten Reden, bevor die überhaupt begännen: »Nur Fragen, die nicht zu beantworten sind, sind richtig gestellt.«

Günter Kunert: Die Geburt der Sprichwörter. Wallstein Verlag Göttingen. 145 S., geb., 17,90 Euro

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