Eine soziale Bewegung lässt sich nicht räumen

"Occupy Wall Street" in New York darf nicht mehr übernachten. Am Donnerstag: Blockade der Wall Street"

  • Max Böhnel
  • Lesedauer: 5 Min.

Das Zeltlager im Zuccotti-Park, das vor fast zwei Monaten Hunderte von „Occupy"-Gruppen in den USA und weltweit inspiriert hat, ist seit Dienstag Geschichte. Mit einer überfallartigen Vertreibungs- und Festnahmeaktion überrannten ab nachts um 1 Uhr Hunderte von Beamten des New York City Police Department NYPD das OWS-Ursprungslager, nahmen fast 200 Menschen fest und zerstörten und beschlagnahmten innerhalb von ein paar Stunden alles, was nicht niet- und nagelfest war. Am späten Dienstagnachmittag war der Park wieder „offen". Auf gerichtliche Anweisung hin steht der „öffentliche Park", der einer privaten Immobilienfirma gehört, der Öffentlichkeit wieder zur Verfügung. Gleichzeitig ist auch das Recht auf freie Meinungsäusserung gewährleistet. Aber: Campen und Übernachten fällt laut dem Richter nicht unter das Recht der Versammlungsfreiheit. Beamte der NYPD sowie eine private Sicherheitsfirma kontrollieren deshalb seit Dienstag die Zugänge zu dem Park.

Wer am Dienstagabend eine grössere Tasche, einen Schlafsack oder auffällig viel Lebensmittel in den Zuccotti-Park mitbringen wollte, wurde abgewiesen. Trotzdem versammelten sich um 19 Uhr, wie seit dem 17. September jeden Abend, Platzbesetzer zur Vollversammlung. Dieses Mal waren es fast 2000, so viele wie nie zuvor. Die Stimmung: enthusiastisch. Viele äusserten sich enttäuscht darüber, dass Übernachtungen nicht mehr möglich sind. Aber Spinner und Tagträumer sind in der OWS-Bewegung offenbar eine Seltenheit. Alle, die ich fragte, äusserten sich zuversichtlich und optimistisch über die Aussichten der Bewegung. „Sie kann nur wachsen, und sie wird es auch", sagte die 22-jährige Jaden, eine Politikstudentin an der New York University, während sie sich warmtanzte. Es werde so oder so bald zu kalt zum Übernachten im Freien, und sie habe eine Bleibe. Die Obdachlosen, die sich in den letzten beiden Wochen in zunehmender Zahl im Zuccotti-Park niedergelassen hatten, würden sich jedenfalls in städtischen Heimen umsehen müssen. „Symbolisch" sei das Übernachten im Park inzwischen geworden, sagte der 31-jährige Maurer Jack McGrath, der im „Direct Action Committee" (Ausschuss für direkte Aktion) mitmischt. Die Bewegung habe nach wie vor Sachspenden im Überfluss sowie über 200000 Dollar Spendengelder auf Bankkonten. Es sei ihm niemals nur um einen „Lebensstil", etwa das für Jugendliche aufregende Zelten mitten in der Grossstadt gegangen, auch nicht um „die Wiederaneignung von öffentlichem Raum", wie es manche Soziologiestudenten nannten. Für ihn, McGrath, ging es darum, „eine physische Ausgangsbasis zu haben, um kollektiv linke Politik zu machen". Das Zelten sei für manche zum „Selbstzweck, zum Fetisch" geworden.

Seit dem 17. September, der Geburtsstunde von „Occupy Wall Street", wird es von Tag zu Tag schwerer, den Überblick über neu dazugekommende Zeltlager, von der Polizei zerstörte Camps, Protestaktionen kleinerer und grösserer Gruppen und Debatten zu bewahren. Denn innerhalb von zwei Monaten hat sich die Bewegung multipliziert. Es gibt kaum einen gesellschaftlichen Bereich, der nicht von diesem Phänomen erfasst – besser gesagt: berührt worden ist. Zur Schnelligkeit, mit der sich diese soziale Bewegung wie keine andere in einem spätkapitalistisch-formaldemokratischen Land wie den USA verbreitet hat, haben im Wesentlichen das Internet und seine fast überall verfügbaren Fahrzeuge auf der Datenautobahn beigetragen. Proteste werden live über IPhone ins Web übertragen und können gleichzeitig Tausende von Kilometern entfernt mitverfolgt und debattiert werden. Polizeiübergriffe können viel leichter als früher mit einer Tabletkamera dokumentiert und damit gerichtlich relevant werden.

Aber auch jenseits der Technik lässt sich aus den Ereignissen der letzten beiden Monate in den USA eine Erkenntnis ableiten, die – wäre sie im Sommer vorgetragen worden – noch als Spinnerei abgetan worden wäre. In diesem riesigen Land mit seinen mächtigen Grosskonzernen und seinen beiden Parteien, die wegen des korrupten Wahlkampffinanzierungssystems von Wall-Street-Geldern abhängig sind, hat sich in den vergangenen 20, 30 Jahren der Deregulierung eine nicht mehr zu übersehende Linke mit sozialdemokratischen, sozialistischen und anarchistischen Neigungen entwickelt. Sie hat keine Partei wie in westeuropäischen Ländern, sie ist jung, unorganisiert und höchst motiviert, etwas zu verändern. Und sie sieht der Arbeitslosigkeit entgegen. In gewisser Weise waren viele, wahrscheinlich die meisten von ihnen, als Freiwillige in Obamas Wahlkampfapparat tätig. Aber diese Zeiten sind vorbei. Denn die OWS-Linken sind schwer enttäuscht, und die Apparatschik-Demokraten ebenso wie der Präsident machen bisher keine Anstrengungen, die „Occupy"-Leute, die heute von militarisierten Polizeieinheiten reihenweise geräumt und verdroschen werden, zu integrieren.

Räumungen von besetzten Lagern hin oder her – am 17. November (Donnerstag) ist „International Day of Action". Er markiert das zweimonatige Bestehen von OWS sowie den Jahrestag des griechischen Studentenaufstands gegen die Junta 1973. Das Datum ist in der neuen US-Linken durchaus bekannt. Geplant sind in New York ab 7 Uhr morgens ein „Shut Down Wall Street", das Dichtmachen des Hochfinanzviertels mittels Masse. Am Nachmittag sollen von 16 U-Bahnstationen aus im weltweit grössten Verkehrsnetz „Volksaufklärungen" stattfinden. Nach Feierabend um 17 Uhr stossen Gewerkschaften gegenüber dem Bürgermeisteramt dazu, um Gelder für Jobs und Infrastruktur zu fordern. Später soll es einen gemeinsamen Marsch auf die Brooklyn Bridge geben. US-weit rufen am selben Tag „Occupy"-Gruppen an fast 30 Universitäten zum Streik auf.

Dass „Occupy Wall Street" nach der Räumung des Zeltlagers in Manhattan jetzt erst richtig Zulauf bekommt, wollen die Aktivisten am Donnerstag in New York und darüberhinaus unter Beweis stellen.

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