Worte einer Schweigenden

»Desdemona« nach Toni Morrison begeisterte beim Festival Spielzeit Europa

  • Ekkehart Krippendorff
  • Lesedauer: 3 Min.
Szene aus »Desdemona«
Szene aus »Desdemona«

Es war ein Höhepunkt - vielleicht sogar der Höhepunkt - der achten »Theater- und Tanzsaison der Berliner Festspiele« Spielzeit Europa: »Desdemona« der amerikanischen Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison, inszeniert von Peter Sellars, dem kompromisslos politischen aber dabei warmherzig humanistischen Regisseur, und musikalisch kommentiert von der afrikanischen Komponistin Rokia Traoré. Hier wurde eine spirituelle Dimension des Theaters freigelegt, die nicht so rasch wieder vergessen sein dürfte, kein »event«, wie das heute heißt, sondern das Erlebnis einer Wirklichkeit des Geistigen mit dem Potenzial der Weltveränderung, wie sie das diesjährige Festival-Motto verspricht. Man weiß zwar nicht, wie die vielen Einzelnen, die das angespannt mitgehende Publikum ausmachten, mit dieser Erfahrung später umgehen werden, wie und was sie darüber Dritten berichten, und ob Theaterleute die Anregungen eines anderen Blicks auf unser kulturelles Erbe aufgreifen werden - aber möglich ist es schon. Worum geht es?

Natürlich um Othello und die Liebe zwischen ihm, dem Schwarzafrikaner, und der Patriziertochter Desdemona und beider tragisches Ende. Aber das sagt noch gar nichts. Man muss darüber nachdenken, was Morrison meint mit der scheinbar paradoxen Behauptung, dass die tote Desdemona erst als Tote lebt und lebendig bleibt: Als spirituelle Kraft, als Mahnung, als geistige Wirklichkeit, wie sie von Shakespeare geschaffen und durch ihn unsterblich wurde. Morrison: »Für die Toten sind Vergangenheit und Zukunft gleich. Sie können zurück und nach vorne sehen.« Noch einmal: die Wirklichkeit des Geistigen. Bei Shakespeare ist Desdemona fast durchweg schweigsam - Morrison gibt ihr Stimme, Sprache und die Worte großer Dichtung. Sie spricht über sich, und das als Frau, als Liebende, und nicht zuletzt (in der Othello-Lesart von Morrison) als Weiße unter Afrikanerinnen (Tina Benko), war sie doch großgezogen worden von der Amme Barbarie, die ihr afrikanische Kultur - die Kultur von Sklaven - vermittelt hatte. Zwischen diesen beiden Frauen spielt sich die Bewusstwerdung ihrer Rolle ab, die Rolle von Opfern männlicher Unterdrückung. Im Bühnenspiel schaffen sie sich einen Freiraum der Reflexion, der Selbstkritik an ihrem Schweigen zur Lüge (die unglaubwürdige Geschichte mit dem Taschentuch), der Kritik an der Gewalttätigkeit der Männer, deren Opfer auch Barbarie parallel zu Desdemona ist. Aber immer wieder denken die Frauen darüber nach, ob es nicht die gerühmten weiblichen Tugenden sind, die den Männern ihre Macht geben. Andererseits: Auch der unsichtbar bleibende Othello - durch Desdemona mit verstellter Stimme zu Wort kommend - ist ein Opfer der gewalttätigen Gesellschaft. Die liebesblinde Frau hatte dessen männlich-brutalen Züge nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Diese Großzügigkeit des liebenden Blickes jedoch macht eine Versöhnung möglich - und Versöhnung bedeutet eine politisch veränderte Welt.

Und so wird aus dem musikalisch mit betörend harmonischem und von afrikanischen Instrumenten unterlegtem Gesang - »unglaublich privat, unglaublich feminin und kontemplativ, wie um geheime Räume zu öffnen« (Sellars) - ein komplexer, vielgestaltiger poetischer Diskurs über Macht und Gewalt, über Kolonialismus und die Wurzeln des Rassismus, und deren mögliche Überwindung durch die höhere Macht der Liebe in einer sich dem Geistigen öffnenden politischen Perspektive.

Spielzeit Europa, noch bis 28. Januar, Haus der Berliner Festspiele

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