nd-aktuell.de / 28.11.2011 / Brandenburg / Seite 12

Kafka im Knast

Gefangene der JVA Charlottenburg verknüpfen »Der Prozess« mit aktuellen Biografien

Tom Mustroph
Wie bei Kafka vermischen sich in dieser »Prozess«-Inszenierung Realität und Fiktion.
Wie bei Kafka vermischen sich in dieser »Prozess«-Inszenierung Realität und Fiktion.

Einen strengen weißen Raum - eine Art justiziarischen »white cube« - hat Bühnenbildner Konrad Schaller in der Justizvollzugsanstalt Charlottenburg eingerichtet. Eine undurchlässige Schicht aus blendend weißen Kopien von Gerichtsurteilen bedeckt den Boden. Man kann sie an sich nehmen und von Raub sowie von undurchsichtigen medizinischen Delikten erfahren. »Wir haben die Akten aus dem Internet gezogen, wo sie anonymisiert zu Studienzwecken zur Verfügung gestellt werden«, erzählt Regisseur Krzystof Minkowski, der gemeinsam mit seinem Kollegen Dirk Moras die bereits vierte Inszenierung im Gefängnis, aber die erste im Männerknast, hingelegt hat.

Auf diesem weißen Aktenteppich gestalten sieben Gefangene sowie der Schauspieler und Performer Nikolai Plath Franz Kafkas Justizverwirrungsspiel »Der Prozess«. Plath fungiert dabei zunächst als ein Zirkusdirektor, der die Gefangenen wie wilde Bestien vorführt. Der geschmeidige Conférencier lässt einen knorrigen, grauhaarigen 68 Jahre alten Gefangenen Kniebeugen verrichten, im Kreis herumlaufen und dabei unsinnige Töne ausstoßen und erfreut sich seiner Macht. Er wird später aber auch selbst in die Dynamiken der kafkaesken Erniedrigungsprozedur hineingezogen, wenn er von seinem Anwalt (Steven Mädel) gedemütigt wird.

Dieser permanente Wechsel der Spieler von Positionen der Macht und denen der Erniedrigung machen den einen großen Reiz dieser Inszenierung aus. Denn niemals wird klar, wer auf der Siegerseite bleibt, wer seine Haut retten kann und wer zermalmt, zerrüttet und zerstört wird. Diese strukturelle Unsicherheit in einem des Menschen Maß übersteigenden Apparat ist mit einfachen Mitteln sichtbar gemacht.

Der zweite Reiz dieses Abends besteht in den schillernden Verbrecherbiografien, die die Gefangenen in Monologen einstreuen und bei denen nicht abzuschätzen ist, in welchem Maße sie realen Fällen entsprechen und möglicherweise sogar dem Leben der Sprechenden entnommen sind. Der distinguiert wirkende Bernhard R. (Name geändert, d.Red.) etwa erzählt von einem Anwalt, der sich zum Waffen-, Menschen- und Drogenhändler entwickelte, der stolz darauf ist, »schwierige Wünsche nach Gütern, die nicht im Kaufhaus erhältlich sind«, erfüllen zu können, und mit dem so gemachten Geld seine Kinder nach Oxford und Harvard schickt. Cabrillo beschreibt, wie ein Mann, der sich als eBay-Verkäufer so über einen Kunden erzürnte, dass er ihn urplötzlich erstach, minuziös den Tatort säuberte und die Leiche entsorgte. Erinnerungen an die Methodik des Menschenschlächters Haarmann kommen hoch.

Eher kurios ist die Geschichte, die Plath ausbreitet und die von einem Mann handelt, der sich als Laie medizinisches Wissen aneignet und mit ein paar gefälschten Diplomen tatsächlich als Chirurg anheuert und im OP schneidend tätig wird. Er fliegt erst auf, als er sich aufs Gebiet der Neurochirurgie verlegen will und dafür nicht die richtigen Diplome findet. Er landet am Ende in Sicherheitsverwahrung, denn er könne »nicht nicht operieren« und sei daher eine Gefahr für potenzielle Patienten. Diese Geschichte erhält einen zusätzlichen Kick, wenn man erfährt, dass Steven Mädel, der voller Lust in die Rolle des Anwalts schlüpfte, der die von Plath gespielte Figur drangsalierte, sich im wahren Leben tatsächlich als Anwalt ausgab. »Ich habe einige Erfahrung als Anwalt. In Köln hatte ich als Wahlverteidiger 20 Klienten«, behauptet Mädel. Als die Sache aufflog, wurden alle seine Klienten sogar freigesprochen, weil ein Prozess, der von nicht autorisierten Personen geführt wird, eben nicht rechtens ist. Ob diese Geschichte in allen Einzelheiten stimmt, ist freilich nicht zu ergründen. Der Anstaltsleiter bestätigt immerhin eine Episode, in der Mädel sich als Richter ausgab und per Telefon eine gegen ihn selbst verhängte Strafmaßnahme in der Anstalt aufschob. »So gelinkt hat mich noch keiner«, meint er.

Weil sich reale und fiktive Elemente in diesem »Prozess« vermischen, geht dem Zuschauer die Orientierung ähnlich verloren wie dem Protagonisten Josef K. in der literarischen Vorlage. Obwohl Moras und Minkowski den komplex konstruierten Roman auf eine Revue-Fassung kondensierten, die dank der Originalität der Akteure auch Gelächter provoziert, werden sie ihm dennoch gerecht. Kafka kann Spaß machen - das ist die vielleicht verblüffendste Erkenntnis dieses Abends. Neuigkeitswert hat auch die Tatsache, dass das Regieduo die logistische Kompetenz der Knasttheatergruppe aufBruch nutzen konnte und aufBruch selbst sich mit dieser neuen Produktionsform ästhetisch anders positioniert. »Das ist eine Win-win-Situation für alle«, meint Minkowski. Dem ist, auch bezogen auf die Zuschauer, zuzustimmen.

29.,30. 11., 6., 7. 12., 18 Uhr. Karten über die Volksbühne, Einlass 16.30-17.30, JVA Charlottenburg. Friedrich-Olbricht-Damm 17