Eine vergessene Forderung der sozialistischen Bewegung

  • Uwe Stegemann, wissenschafticher Mitarbeiter der PDS-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus
  • Lesedauer: 3 Min.
Soll eine sozialistische Partei der Logik folgen, dass eine wohlgeordnete Welt eine Mehrzahl autonomer staatlicher Gemeinwesen braucht, von denen ein jedes befugt ist, über sein Gebiet allein zu verfügen und sich daher gegenüber Fremden nach eigenem Gutdünken zu öffnen bzw. zu verschließen? Oder soll sie davon ausgehen, dass die Parzellierung der Welt in eine Vielzahl von festumgrenzten Staaten durch nichts gerechtfertigt sei, dass alle Menschen ein Recht auf freie Bewegung überall auf der Welt haben und dass deshalb die Länder ihre Grenzen öffnen sollten? Diese Debatte wird in der PDS weitgehend geschichtslos geführt. Die Migrationsdebatte ist jedoch in den sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien kein Novum. Karl Liebknecht fragte bereits am 14. Juli 1914 auf der Deutsch-Französischen Friedenskundgebung in Condé-sur-l'Escaut (Nordfrankreich), wem und wozu Grenzen dienen, um sie selbst anschließend zu beantworten: »Wir Arbeiter haben keine Grenzen nötig; diese dienen nur gewissen Schichten jedes Landes, denen alle Mittel gut genug sind, die Völker zu verhetzen.« Die »nationalen« Sichtweisen der damaligen sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien und Gewerkschaften haben allerdings bereits 1914 das proletarische Ideal eines Weltproletariats als solidarisches und einheitliches Ganzes ad absurdum geführt. Und auch heute gehen diese nicht von der Forderung nach Freizügigkeit, sondern weitestgehend von den Interessen der Aufnahmegesellschaft aus. Die PDS tut sich schwer mit der Forderung nach Freizügigkeit. Nicht vermittelbar, nicht realistisch und utopisch, heißt es. Auch sie erweist sich in dieser Frage im Gegensatz zum proklamierten Interessenausgleich als zuverlässiger Garant vorwiegend »nationaler« Interessen. Deshalb fordert sie nun klare Einwanderungsrechte und damit klare Grenzen. Die Chancen, einen dauerhaften Aufenthalt zu erhalten, sind jedoch durch die Verknüpfung mit arbeits- und damit sozialrechtliche Kriterien eher gering. Letztlich wird die PDS sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, wie andere Parteien auch, auf der Suche nach jenem »rentablen Ausländer« zu sein, der nur dann bleiben darf, wenn er zum deutschen Bruttosozialprodukt beiträgt. Der Internationale Sozialistenkongress dagegen hatte 1907 in Stuttgart deutlich festgestellt: »Der Kongress erkennt die Schwierigkeiten, welche in vielen Fällen dem Proletariat eines auf hoher Entwicklungsstufe des Kapitalismus stehenden Landes aus der massenhaften Einwanderung unorganisierter und an niederer Lebenshaltung gewöhnter Arbeiter aus Ländern mit vorwiegend agrarischer und landwirtschaftlicher Kultur erwachsen, sowie die Gefahren, welche ihm aus einer bestimmten Form der Einwanderung entstehen. Er sieht jedoch in der übrigens auch vom Standpunkt der proletarischen Solidarität verwerflichen Ausschließung bestimmter Nationen oder Rassen von der Einwanderung kein geeignetes Mittel, sie zu bekämpfen.« Knapp hundert Jahre später wird vor dem Hintergrund der »Dritten Welt« als des migratorischen Angstgegners wieder einmal über nationale sicherheits- und ordnungspolitische Konzepte diskutiert, die der Angst vor der Vielfalt überlappender Herkunfts- und Identitätskategorien und Wohlstandsverlusten entgegenwirken sollen. Gleiches betrifft die Diskussion zur ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit im Rahmen der EU-Erweiterung. Die PDS-Abgeordnetenhausfraktion von Berlin hat in dieser Frage klar gegen eine Einschränkung der Freizügigkeit durch Übergangsfristen für ArbeitnehmerInnen der Beitrittsländer Position bezogen. In ihrem Beschluss knüpft sie damit indirekt an die Resolution des Internationalen Sozialistenkongress von 1907 an, der folgende Feststellung traf: »Der Kongress vermag ein Mittel zur Abhülfe der von der Aus- und Einwanderung für die Arbeiterschaft etwa drohenden Folgen nicht in irgendwelchen ökonomischen oder politischen Ausnahmemaßregeln zu erblicken, da diese fruchtlos und ihrem Wesen nach reaktionär sind, also insbesondere nicht in einer Beschränkung der Freizügigkeit und in einem Ausschluss fremder Nationalitäten oder Rassen.« Darauf Bezug nehmend, wies Karl Liebknecht auf dem Essener Parteitag 1907 auf eine der »wichtigsten Fragen im wirtschaftlichen und politischen Kampfe des Proletariats« hin, nämlich das »Damoklesschwert der Ausweisung«. In seiner Rede bekräftigte er nochmals die Kongressresolution, die eine Beseitigung des gesamten Ausweisungsrechtes, »also die völlige Gleichstellung der Ausländer mit den Inländern auch in bezug auf das Recht zum Aufenthalt im Inlande«. Darin sah Liebknecht »die erste Voraussetzung dafür, dass die Ausländer aufhören, die prädestinierten Lohndrücker und Streikbrecher zu sein«.
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