Hierbleiben, hier kämpfen

Zum 80. Geburtstag - Werke, Band 1: Franz Josef Degenhardts Roman »Zündschnüre«

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 6 Min.

Als Franz Josef Degenhardt 1973 seinen ersten Roman »Zündschnüre« veröffentlichte, lagen die Ereignisse, über die er schrieb, noch keine dreißig Jahre zurück. Die jugendlichen Helden des Buches, Arbeiterkinder in den letzten beiden Kriegsjahren, haben mit dem Autor das Geburtsjahr gemein und wohl auch etliche Erfahrungen. Im Roman sind die dreizehn. Als Degenhardt »Zündschnüre« schrieb, war er Anfang vierzig. Heute, am 3. Dezember 2011, wäre er 80 Jahre alt geworden. Der kommunistische Schriftsteller, Liedermacher, Jurist Degenhardt starb wenige Wochen vor seinem runden Geburtstag.

»Zündschnüre«, hunderttausendfach gedruckt und gelesen in West und Ost, 1974 vom WDR verfilmt, war damals ein zeitgeschichtlicher Roman; das Geschilderte noch so greifbar wie in unseren Tagen die Achtziger. Heute liest man das Buch historisch - alles lang her. Nicht viele, die diesen Krieg erleben mussten, können noch davon erzählen. Alles ist aufgeschrieben. Mit dem Niedergang der Sowjetunion und dem Ende des Ostblocks, so scheint es, ist die Nachkriegsepoche zu Ende gegangen. Degenhardts Themen: Krieg, Klassenkampf, Faschismus - ein für alle mal erledigt?

Wer das behauptet, hat jüngst die Zeitung nicht gelesen. Wo Menschen unter den Augen staatlicher Behörden wieder ihrer Abstammung wegen ermordet werden, wo deutsche Soldaten wieder bewaffnet kämpfen, wo eine kapitalistische Krise das Weltgefüge zerpflügt wie seit achtzig Jahren nicht mehr, stellen sich alte Fragen neu. Die zeitspezifischen Antworten, die Degenhardts Romanfiguren geben, sind nicht anwendbar auf die Gegenwart. Aber, indem der Autor eine dieser Figuren die Überzeugung äußern lässt, »nach Kriegsende ginge der Kampf weiter, weil die alte Klasse noch da sei, und die würde sich wieder verbrüdern mit der alten Klasse der Westalliierten«, transportiert er diese Einsicht über die Zeiten. Als erster Band einer Werkausgabe ist »Zündschnüre« jetzt im Verlag Kulturmaschinen neu aufgelegt worden.

Das Buch handelt vom organisierten Widerstand einer verschworenen Gemeinschaft im letzten Kriegsjahr. Aus einer verwirrenden Fülle von Figuren mit seltsamen Rufnamen schält sich bald ein Häuflein Dreizehnjähriger als Kern heraus, um den die Erzählung gebaut ist: Fänä Spormann, Viehmann Ronsdorf, Tünnemann Niehus, Zünder Krach und Sugga Trietsch. Sie leben im Arbeiterviertel einer Kleinstadt am Rande des Ruhrgebiets. Ihre Schulen sind zerbombt, ihre Väter im Krieg oder im Lager. Sie rauchen, vögeln und saufen »Schabau« wie die Alten, aber wie diese leben sie nicht ohne Sinn und Ziel. Ihr seit Generationen rotes Viertel, das Werk in dessen Mittelpunkt, der Bahndamm, die Erlenhöhle im nahen Wald: Hier tun sie alles, was unter gefährlichsten Bedingungen möglich ist, um den Faschisten das Handwerk zu legen. Den Gegnern und Verfolgten der Nazis leisten sie mutig Hilfe.

In 26 miteinander verbundenen Episoden erzählt Degenhardt im Idiom seiner Protagonisten von der geheimen politischen Arbeit der »Organisation«, in der sich alteingesessene Kommunisten mit Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern verbündet haben. Degenhardts lebenslanger Internationalismus wird hier erzählt: Es geht nicht um eine nationale, es geht um eine Weltbewegung. Zwischen Bombenhagel, Verhaftungen und Radionachrichten von Stauffenbergs Hitler-Attentat, Thälmanns Tod und den näherrückenden Alliierten agieren die proletarischen Helden als Boten, Kundschafter, Versteck- und Nahrungsbeschaffer unterm Deckmantel ihrer kindlichen Unverdächtigkeit: »Ohne uns sind die doch sowieso aufgeschmissen, sagte Sugga, siehsse ja.« Bis zuletzt hoffte der Autor und Liedermacher auf die Jungen.

Spannend und zuweilen gar heiter erzählt Degenhardt von den lebensbedrohlichen Abenteuern, die Fänä - in der Tasche die geladene Walther - und seine Leute im Kampf für ein Leben ohne Bedrohung bestehen müssen: von der Plünderung der Wehrmachtsvorräte, vom Einschmuggeln wehrkraftzersetzender Flugblätter in die Reihen der Soldaten, vom Bergen und Verbergen Verfolgter.

Die Romanfiguren wissen, dass der Krieg bald vorbei sein wird - auch ohne ihr Zutun. Doch setzen sie alles daran, sich selbst zu befreien. Sie tun das, weil ihr Kampf ältere und fernere Ziele hat als das akute Niederringen der Nazibarbarei. Es ist der Klassenkampf. Es ist eine Bewegung der Emanzipation, die sich selbst verriete, wenn sie sich ganz in die helfenden Hände Anderer legte. Die Jungen wissen es von den Alten: »Unsere Stärke aber ist Disziplin. Hierbleiben, hier kämpfen jeden Tag. [...] Wir wollen diese Fabrik, diese Schule, diese Häuser. Und die wollen das Land, wo ihre Fabriken, Schulen und Häuser stehen, noch größer machen, mit mehr Fabriken, Schulen und Häusern, die ihnen gehören.« In alle Freude über das Ende des Krieges mischt sich der aufrichtige Verdruss, dass nicht »Unsere« zuerst da waren. Die Rote Armee.

Der Erzähler Franz Josef Degenhardt ist ein Parteigänger, aber einer, der Zwischentöne kennt. Es gibt bei ihm auch unter den Bösen Gute, und, seltener, andersherum. Was es nicht gibt, ist Jammern. Alle Charaktere, auch die jüngsten, auch die verrückten und verstümmelten, sind gehärtet wie Stahl. Es wird gestorben und getötet, gehurt und gesoffen, gelallt und gelacht. Geheult wird nicht.

Dafür, sagt Degenhardts sozialistischer Realismus, ist in solchen Zeiten kein Raum. Keine Figur wird durch ausufernde Zuschreibungen charakterisiert. Was diese Leute sind, sind sie durch das, was sie tun. Was zu tun ist, bestimmt die Lage, nicht die Moral. Als ein verirrter Sohn des Viertels - einst Fußballnarr, dann HJ-Führer, schließlich verwirrt von der Front desertiert - von den Köpfen der »Organisation« offenbar exekutiert wird, steht das nicht da. Da steht: »Was habt ihr mit Berti gemacht, fragte Fänä. Der ist da, wo er nicht mehr weglaufen kann, sagte Stumpe.« Das Verhältnis zu Stalin ist für Degenhardts Helden zu ihrer Zeit noch nicht geklärt. Über die Weltgewandteste heißt es einmal: »Sie achtete Stalin, liebte ihn aber nicht.« Man könnte auch sagen: Ohne Stalin und die Sowjetunion hätte der Widerstand dieser Menschen keine Basis gehabt.

Degenhardts poetisch-politi-sches Werk - sieben Romane und Hunderte Lieder - entstand in der BRD, als Stalin tot war und setzte sich auch dann fast ungebrochen fort, als die Sowjetunion nicht mehr existierte. Seine Überzeugung, dass eine gerechte Gesellschaft real zu erkämpfen sei, schwand nicht mit dem Verschwinden der Basis, auf die er lange gebaut hatte. Vom Werden dieses standhaften Künstlers, auch von seinem werdenden Denken, seiner werdenden Ästhetik, gibt eine just erschienene 4-CD-Box mit ausgewählten Liedern von 1963 bis 2008 panoramisch Auskunft: »Gehen unsere Träume durch mein Lied« (Koch/Universal).

Ein Vermächtnis, das sich nichts dringender wünscht, als fortgeschrieben zu werden - von folgenden Generationen, unter anderen Voraussetzungen.

Franz Josef Degenhardt: Zündschnüre. Roman. Kulturmaschinen, 210 S., brosch., 15,90 €.
Franz Josef Degenhardt: Gehen unsere Träume durch mein Lied. Ausgewählte Lieder 1963-2008. 4 CDs mit einem Begleittext von Ingar Solty (Koch/Universal).

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