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Vergessen? Nein!

Spielzeit Europa

  • Ekkehart Krippendorff
  • Lesedauer: 2 Min.

Mit dem uns ins Gehirn getrommelten und bis an die Grenze des Erträglichen wiederholten Befehl »Vergessen« endet die polnische Spiegelung von Heiner Müllers beängstigendem historisch-politischen, mit verstörenden Bildern unterlegten Bilanz-Text der »Wolokolamsker Chaussee«: Man kann »Spielzeit Europa« und die Berliner Festspiele nur loben für einen weiteren Höhepunkt politischen Theaters dieser Saison, der wie schon die bisherigen Gastspiele das Meiste an Kraft und Ernsthaftigkeit in den Schatten stellt, was unsere eigenen Bühnen routinemäßig anbieten.

Was sollen wir vergessen, wozu die junge polnische Theatermacherin Barbara Wysocka in der Maske Heiner Müllers ihr Publikum auffordert - aber offensichtlich mahnend das Gegenteil meint? Das unvergessliche Finale dieser fulminanten Adaption des poetisch komplexen, sprachmächtigen Textes spielt in den grausam-kalten Diensträumen der realsozialistischen Ordnungsmacht, die sich ihre Gegner mit raffiniert brutalem Diensteifer als Beweise für die eigene Existenzberechtigung selbst konstruiert. Kafkas Gregor Samsa der »Verwandlung« wird hier zum verhörenden Polizisten, der an seinem kleinen Schreibtisch festgewachsen ist - eine doppelte Metapher, die einem das sprichwörtliche Blut in den Adern erkalten lässt. Das, ebenso wie die Absurditäten des deutschen Russland-Krieges und die Hinrichtung der eigenen Leute als Deserteure, auch die Niederschlagung des 17. Juni-Aufstandes, das sollen wir »vergessen«. Es wird uns hier schwergemacht.

Wer sich vom zeitgenössischen Theater noch herausfordern lassen will und kann, der sollte keines der nächsten Stücke im renovierten Haus der Berliner Festspiele - alle unbekannt und darum zusätzlich aufregend - versäumen. Zum Beispiel vom 15. bis zum 18. Dezember eine deutsche Erstaufführung aus Norwegen: »Tage unter«.

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