Das heiße Erbe des Kalten Krieges

ABC-Waffen - gefährliche Hinterlassenschaften

  • Georg Domin
  • Lesedauer: 5 Min.

Als die Medien kürzlich über den Fund größerer Mengen von Giftgasmunition aus dem Ersten Weltkrieg in Nordfrankreich berichteten, da wurde der internationalen Öffentlichkeit für einen Augenblick klar, dass es außer der Gefährdung der Atmosphäre durch Kohlendioxid-Ausstoß, durch Abholzung von Regenwäldern, durch radioaktive Strahlung und mit der Verschmutzung der Meere durch Tankerkatastrophen noch weitere, bisher viel zu wenig beachtete Gefahren für die Weiterexistenz unseres Heimatplaneten gibt. Auf solche - leider auch von sonst kritischen Denkern weitgehend verdrängten - Gefahren macht Klaus Urban aufmerksam. Es verweist auf die bedrohlichen materiellen und intellektuellen Hinterlassenschaften des Kalten Krieges: die großen Mengen von noch immer verwendungsfähigen Massenvernichtungsmitteln, Kernwaffenmaterial, Giftkampfstoffen, biologischen Waffen, die von den Großmächten in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zur gegenseitigen Bedrohung angehäuft wurden, sowie den Zugriff auf diese durch verantwortungslose Geschäftemacher. Es geht auch um die geistigen Schöpfer dieser Waffen, die bereit sind oder bereit sein könnten, ihre Kenntnisse an gewissenlose Mächte zu verkaufen.
Urban weiß, wovon er berichtet, schließlich war er von 1996 bis 1999 als nationaler Experte auf dem Gebiet der Nichtweiterverbreitung von Technologien zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen für die Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Kommission in Brüssel und Vertreter der EU im Koordinierungskomitee des Internationalen Wissenschafts- und Technologiezentrums (IWTZ) in Moskau tätig. Der studierte Werkstoffkundler und habilitierte Gesellschaftswissenschaftler arbeitete viele Jahre leitend auf dem Gebiet der Forschungsorganisation an der Akademie der Wissenschaften der DDR und später im Ministerium für Wissenschaft und Technik; 1990 wurde er auf Grund seiner großen Sachkenntnis vom Bundesministerium für Forschung und Technologie in Bonn als Referent übernommen.
Freilich kann sein Buch kaum mehr als auf die Gefahren aufmerksam machen, die von der heißen Erbschaft des Kalten Krieges ausgehen, auf die immer noch einsatzfähigen Waffen und ihre mitunter sträflich unsichere Lagerung. Aber dieses ist ja nicht wenig, wenn es dazu führt, dass die Öffentlichkeit und nicht zuletzt Politiker und Wissenschaftler endlich nach optimalen Lösungen suchen und drängen.
Wie dem Buch von Urban zu entnehmen ist, lagert heute in der Welt so viel Plutonium, dass es für den Bau von mehr als 200000 Atombomben mit einer Sprengkraft von je zehn Kilotonnen ausreichen würde. Der Autor schildert, welches Risiko allein für die Gesundheit von Menschen von Plutonium ausgehen kann, wenn es in pulverisierter Form in die Atemwege gelangt: Ein tausendstel Gramm Plutonium kann bereits zu einem Lungenkarzinom führen. Es läuft dem Leser kalt über den Rücken, wenn er liest, dass chemische Kampfstoffe, wenn sie über die Atmungsorgane, über Haut oder Augen in den Körper eindringen, Muskellähmungen bewirken und in wenigen Minuten zum Tod führen. Und man muss zur Kenntnis nehmen, dass etwa 30000 Tonnen solcher C-Waffen heute noch in den USA und 40000 Tonnen in Russland lagern.
Außerdem weiß Klaus Urban zu berichten, dass sowohl Russland als auch die USA recht viele Vorbehalte in die Diskussion um die Ratifizierung eines C-Waffen- Ächtungsvertrages eingebracht hatten und die USA auch eine wesentliche Einschränkung der Vertragsbestimmungen für sich durchbringen konnten. Es ging um die von den USA im Vietnamkrieg eingesetzten Entlaubungsmittel, um das so genannte Agent Orange. Die USA weigerten sich, dieses Kampfmittel in die Liste der Chemiewaffen aufzunehmen, obwohl es das Gift Dioxin enthält. Der Grund dafür ist offensichtlich: Wäre »Agent Orange« in die Liste der Chemiewaffen aufgenommen worden, hätten die USA nach dem Völkerrecht den Opfern Entschädigungen zahlen müssen. So viel zur Frage der »Moral«.
Beinahe noch unheimlicher sind die Darstellungen zur gezielten Produktion von biologischen Waffen in der ehemaligen Sowjetunion und in den USA wie etwa solcher Waffen, die Pestbakterien und Erreger von Milzbrand enthalten. Vor Versuchen am Menschen wird nicht zurückgeschreckt. Und besonders gefährlich sind solche Pestbomben und andere bakteriologische Waffen auch deshalb, weil ihre Wirkung weder räumlich noch zeitlich beschränkt bleibt, da der »Wirkstoff« dieser Waffen sich selbst reproduziert.
Liest man das Buch von Urban aufmerksam, so kommt man zu dem Schluss, dass dieses Erbe des Kalten Krieges im Bewusstsein der Öffentlichkeit auf Platz eins in der Liste aller Formen der Umweltgefährdung gerückt werden müsste. Wirksame Proteste und durchgreifende Maßnahmen sind geboten. Der Autor enthüllt dem Leser aber auch illusionslos, dass es sich hierbei um ein äußerst kompliziertes, schwer lösbares Problem handelt. Da geht es vor allem um Entscheidungen über naturwissenschaftlich-technische Lösungsvarianten zur Entsorgung von radioaktivem Material, von Giftstoffen und biologischen Waffen; und es geht nicht minder um die enormen Kosten, die dafür aufgewendet werden müssen.
Urban informiert auch darüber, welche Maßnahmen international schon unternommen wurden und werden. Eine nicht unbedeutende Rolle spielt dabei das Internationale Wissenschafts- und Technologiezentrum, in dem er selbst mitgewirkt hatte. In der Präambel des Gründungsabkommens des IWTZ, das von der BRD, den USA und Russland initiiert wurde und von der EU und Japan mitgetragen wird, heißt es u.a., dass die Verbreitung von Technologie und Sachkenntnis auf dem Gebiet von Massenvernichtungswaffen verhindert werden muss. Urban fügt hinzu: Das psychologische Grundmuster des Kalten Krieges war gegenseitiges Misstrauen. Nun käme es darauf an, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen.

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Klaus Urban: Das heiße Erbe des Kalten Krieges: Hinterlassenschaften und Hinterbliebene. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2000. 220 S., br., 19,50DM.

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