»Ein Schneesturm, wie ich ihn nie ahnte«

»Aus dem bairischen Walde«, eine autobiografische Erzählung von Adalbert Stifter

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 4 Min.

Vor Jahrzehnten gehörte Adalbert Stifter noch zum allgemeinen Bildungsgut. Bei Schulabschlüssen und ähnlichen Ereignissen bekam ich Stifter-Bücher geschenkt: »Der Hochwald«, »Der Nachsommer«, »Brigitta« ... Als ich später irgendwann einmal eine mehrbändige Stifter-Ausgabe erbte, wurde sie ein schöner Schmuck im Bücherschrank. Romantisch-sentimentalen Geschichten aus verlebten Zeiten von Künstlern. Rittern, sanften Frauen, von Bergdörfern und Tannenwäldern - so erschienen sie mir jedenfalls - gelesen hatte ich sie schon längst nicht mehr.

Da riss mich kürzlich eine Lesung im Radio aus dem Dämmer meiner literarischen Ignoranz und setzte mich mitten hinein in ein irrwitzig bedrohliches Naturphänomen, »das ich nie gesehen hatte, das ich nicht für möglich gehalten hatte, und das ich nicht vergessen werde. Es wurde ein Schneesturm, wie ich ihn nie ahnte, und es wurden Wirkungen, die weit über mein Wissen gingen. Und zweiundsiebzig Stunden dauerte die Erscheinung ... ununterbrochen fort.« Ich befand mich in einem Fahrzeug und wurde durch ein solch dichtes Schneegestöber getrieben, dass ich die Hand vor dem Gesicht nicht sehen konnte. Rechts und links neben dem schmalen Grat, auf dem ich fuhr, lauerten Abgründe.

O weh! War ich hier im »Zauberberg« und mit Hans Castorp im Schneetreiben tödlicher »Winterwildnis« eingeschlossen? Oder erlebte ich doch nur mit Adalbert Stifter ein Ereignis des Novembers 1866 im bayrisch-böhmischen Hochgebirge, das ihm, dem Erzähler - wie Thomas Mann ein halbes Jahrhundert später das Kapitel »Schnee« - zur traumatischen Läuterungs- und Symbolgeschichte geriet? Zum Glück war das letztere der Fall. Hier ging der Dichter noch nicht so vermessen mit mit unergründlichen Seelenängsten, um. Hier war Natur zwar »fürchterlich« und bedrohlich, aber zugleich erhaben, hier blieb Angst ein augenblickliches, vorübergehendes Phänomen, hier halluzinierte schließlich kein Angekränkelter eine arkadische Landschaft mit schönen Jünglingen und einem blutigen Opferaltar. Alles war unmittelbares, »sinnbestrickendes« Erleben. Die Einsamkeit des Menschen war noch nicht so vollkommen, wie sie später mit dem neuen Jahrhundert und ihrer Literatur zu Tage treten sollte.

Ich entdeckte Adalbert Stifter als einen vormodernen Dichter. Dass Thomas Mann die Erzählungen Stifters sehr genau kannte, ist anzunehmen. Im Nachwort zu »Sonnenfinsternis und Schneesturm. Adalbert Stifter erzählt die Natur« sagt Wolfgang Frühwald: »Als Dichter aber war er seiner Zeit voraus und gelangte an den Saum der Moderne.« Heutige Katastrophenszenarien bedenkend, erfährt das der Leser überdeutlich. Die rasanten technischen Entwicklungen im 19. Jahrhundert werden nicht nur als Fortschritt, sondern auch als Bedrohung erlebt Es ist eine Zeit der großen Veränderungen, der Gefährdungen und Entfremdung von Mensch und Natur. Noch hat die Natur auch ihren Zauber und ihre heilenden Kräfte - aber wie lange wohl? Adalbert Stifter erzählt, wie er im Herbst als Rekonvaleszent (!), gänzliche Heilung suchend, eine Zeit in einem ihm von früher vertrauten Gasthaus im Gebirge verbringt, allein, getrennt von seiner Frau. Alles beginnt friedlich und heilsam. Dem Blick aus dem Herbergsfenster bietet sich eine liebliche Landschaft von Bergen, Hügeln, Schluchten, Wiesen und Feldern. Zwischen Tannen, Fichten und unzähligen duftenden Kräutern spürt der Wanderer »das große Atemholen der Natur«.

Doch dann schlägt das Wetter plötzlich um. Es erhebt sich ein Wind, der im Handumdrehen zum Sturm und zum wilden Schneetreiben wird. Wege, Bäume und Häuser versinken in einer großen weißen Wüste. Da befällt den Erzähler eine solche Angst, dass er die Einsamkeit nicht mehr ertragen kann. Endlich gelingt es ihm, einen Pferdeschlitten zu mieten und über jenen, schon beschriebenen schmalen, gefahrvollen Weg und durch ein »dunkles Pförtchen« in einer hohen weißen Waldes-Wand wieder zu menschlichen Behausungen zu gelangen. Alles geht noch einmal gut aus.

Ich lese weiter, nun die bekannte, märchenhafte Weihnachtsgeschichte »Bergkristall«, die erzählt, wie die Geschwisterkinder Konrad und Sanna in einer eiskalten Hochgebirgslandschaft zwischen Gletschern, Eishöhlen und Schneefeldern in Todesgefahr geraten. Hieß nicht der verheerende Wirbelsturm vor ein paar Jahren in der Karibik »El Niño« »Christkind«?

Und dann finde ich die faszinierende Erzählung »Waldsteig«. Auch sie handelt von Verirrung und Heilung. Dem neurotischen Künstler Tiburius verordnet sein Arzt eine Badekur. Nichts will helfen. Erst als sich Tiburius im Wald zwischen Felswänden und Abhängen verlaufen hat, begegnet ihm das liebliche Mädchen mit dem Erdbeerkörbchen ... Sind Adalbert Stifters Erzählungen Märchen oder doch Katastrophen-Szenarien? So weit von einander entfernt, wie wir meinten, ist vielleicht beides gar nicht, hat doch Thomas Mann sein Buch »Der Zauberberg« genannt und von einem »ironischen Spiel« gesprochen, verwandt einem Märchen.

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