Wundertüte

Die neue NATO

  • Franz-Karl Hitze
  • Lesedauer: ca. 2.5 Min.
Im April 1999 haben die Mitgliedsländer der NATO ihr Aufgabengebiet neu definiert. Damit ging einher eine offenkundige Wandlung des Paktes vom so genannten Verteidigungsbündnis zur Interventionsmacht. Laut der in Washington beschlossenen Erklärung der NATO-Staaten will man in Zukunft Krisen und Konflikte im »euroatlantischen Raum« bewältigen. Wie gesagt, so getan. Kurz darauf wurde gezeigt, was darunter zu verstehen ist: Einmischung überall. Spätestens seit dem völkerrechtswidrigen Einsatz im Kosovo-Krieg ist die neue Strategie der NATO klar. So wenig UNO wie nötig, aber so viel NATO wie möglich. Das Bündnis will sich jedoch nicht nur damit begnügen, einzuschreiten bei »ethnischen und religiösen Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten und Menschenrechtsverletzungen«. Seine Interessen und Zielstellungen sind viel umfassender und können Konsequenzen zeitigen, die heute noch nicht absehbar sind bzw. nur zu erahnen. Die Washingtoner Erklärung gleiche einer »diplomatischen Wundertüte«, schreibt der Herausgeber eines kürzlich erschienenen Buches, Stefan Reinecke: Es finde sich hierin immer das, was man gerade zu gegebener Zeit braucht. Die NATO hat sich im April 1999 in Washington faktisch neu gegründet. Es reicht aber nicht, festzustellen, dass die neue NATO-Strategie einen sicherheitspolitischen Führungsanspruch ihrer Mitgliedsstaaten in der Welt erhebt, der den Vereinigten Nationen oder der OSZE nur noch eine ergänzende Rolle erlaubt. Daher sei hier einmal eine korrekte Beobachtung des Alt-Kanzlers Helmut Schmidt zitiert, der in dem neu formulierten Bündnisauftrag die Gefahr sieht, dass sich die Weltmacht USA als globaler Friedensrichter aufschwingt und mit Hilfe der NATO Ordnung in der Welt nach eigenem Gutdünken schaffen will. Dem Herausgeber des hier anzuzeigenden Bandes ist es gelungen, acht profilierte Autoren zusammenzuführen, die sowohl die Geschichte wie auch die Hintergründe jüngster Entwicklungen und der neuen NATO-Doktrin beleuchten. Jürgen Gottschlich rekonstruiert die Wandlungen im Verhältnis der westdeutschen Linken zur NATO. Andreas Zumach untersucht die jüngere Geschichte des Bündnisses, das sich vor zehn Jahren - schier unglaublich - in einer existenziellen Krise befand, als sich der Hauptfeind von der historischen Bühne verabschiedete. Erhard Stölting wiederum reflektiert die russische Haltung nach dem Machtwechsel in Moskau, während Herrman Scheer eine Analyse der jüngsten Geschehnisse im Kaukasus - auch im Kontext mit dem Bestreben der USA, ihre Ölressourcen zu sichern - vorlegt. Umstritten ist Norman Birnbaums Theorie, wonach die NATO an einem Endpunkt angelangt sei; seine Spekulation, dass Europa und die USA schon bald getrennte Wege gehen, scheint indes nicht so unberechtigt zu sein - denkt man allein an die Verstimmungen derzeit im Bündnis hinsichtlich des Raketenabwehrschildes, das die USA eigenmächtig zu schmieden gedenken. Dieses Buch jedenfalls wird nicht nur bei Fachleuten Interesse finden. Empfohlen sei es u.a. jenen 600 Rekruten, die heute im ehemaligen Hauptquartier der Wehrmacht, im Bendler-Block in der Berliner Stauffenbergstraße, ihr Gelöbnis sprechen. Dieses Buch liefert etliche Indizien dafür, dass die politische Neuordnung Europas und der Welt noch längst nicht abgeschlossen ist und deren internationale Folgen noch gar nicht abzusehen sind. Auch Bundeswehrsoldaten sollten sich dessen bewusst sein und wissen, für wen und für was sie in Kampfeinsätze geschickt werden. Stefan Reinecke (Hg.): Die neue NATO. EVA-...

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