Zeitgeistfern, zeitwahrheitsnah

Winfried G. Sebald: Arbeit gegen die Erinnerungslosigkeit

  • Raimund Petschner
  • Lesedauer: 3 Min.
Es mutet nahezu goethezeitlich an, wie die Menschen in W. G. Sebalds neuem Roman einander begegnen: Sie sind ohne Eile und Reizhunger, ihre Gespräche werden zu Anregungsgeschenken des einen für den andern, sie nehmen die umgebende Welt mit wachem und genauem, oft auch kenntnisreichem Blick wahr, ohne dass ein Verwertungsinteresse zugrunde läge, sie sind auf das Erkennen ausgerichtet. Jacques Austerlitz, während des Zweiten Weltkriegs bei Pflegeeltern in Wales aufgewachsen, geht seiner »Empfindung des Abgetrenntseins und der Bodenlosigkeit« nach, statt sie weiterhin zu unterdrücken. Es ist das Jahr 1996, als Austerlitz dem Erzähler-Ich schubweise von seiner Suche nach der verschwiegenen und versiegelten Vergangenheit berichtet: eine Geschichte, die ihn nach Prag (dem Ort seiner frühen Kindheit), nach Theresienstadt und Paris geführt hatte, die Geschichte einer jüdischen Familie unter dem Nazi-Terror. Die Gespräche der beiden kreisen, unterhalb der Schicht der biografisch-historischen Ereignisse, um den Schrecken des spur- und erinnerungslosen Verschwindens. Mehrfach macht Austerlitz diesen Schrecken an Orten, an Gebäuden fest, die alles, was sich zuvor einmal an der selben Stelle befunden haben mag, mit ihrer puren Gegenwart überstrahlen; so etwa die neue Nationalbibliothek in Paris, die sich genau dort erhebe, wo sich bis zum Kriegsende ein großes Lager für Beutegut aus den Wohnungen der Pariser Juden befunden habe. Und in London, am Ort der Liverpool Street Station, waren Sumpfwiesen, vor der Stadt gelegen und während der »kleinen Eiszeit« allwinterlich von Schlittschuhläufern geliebt. Wo sind deren Stimmen jetzt? Austerlitz wird von Ahnungen irritiert, dass die übliche Konstruktion von Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft ein fragwürdiger Behelf sei und auch die Trennwände zwischen den Toten und den Lebenden durchlässiger seien, als allgemein angenommen. Die Sätze, mit denen Sebalds Erzähler-Ich den Lebensbericht Jacques Austerlitz wiedergibt, sind schachtelungsfreudig, reich an Einschüben, an Konjunktionen und Konjunktiven: eine Lust an der Gelenkigkeit des Denkens, an Vielfalt und Widerspruch gleichzeitiger Wahrnehmungen, am Spiegelungsreichtum jedes einzelnen Augenblicks. Eine Sprache, denkbar weit von unser aller täglichem Info-Flash entfernt: zeitgeistfern wie die Art der Begegnungen zwischen Erzähler-Ich und Austerlitz. Zeitwahrheitsnah wie das gesamte Buch. Übrigens spielt der Roman mit der Maske des Dokumentarischen: Fotografien der erzählten Orte, teilweise gar der Personen flankieren den Text; es sind (wie schon in Sebalds vorangegangenem Erzählband »Die Ausgewanderten«) gute Amateuraufnahmen, gemacht, um ein »documentum«, ein Beispiel, einen Beweis, ein Zeugnis zu geben. Das ist auch eine Arbeit gegen Spur- und Erinnerungslosigkeit. Man starrt auf diese Überbleibsel der großen und der von Sebald/ Austerlitz erzählten Geschichte: Sie sind so unendlich viel griffiger als die Realitätskonstruktion des Romans. Darf man ihnen trauen? Winfried G. Sebald: Austerlitz. Roman. C. Hanser Verlag. 424Seiten, gebunden, 46DM.
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