Trügerisches Idyll

Silvio Blatter über eine »Glückszahl«, die Unglück brachte

Fast zehn Jahre nach seinem Roman »Avenue America« legt der ehedem schreibflinke Schweizer Erzähler Silvio Blatter »Die Glückszahl«, ein vom Umfang novellendünnes, vom Gehalt romandichtes Werk vor. 1992 hatte sich Blatter zum Leidwesen der Kritik an einem romanesken Märchen versucht, in der »Glückszahl« entzaubert er das Märchen Liebe gleich in doppelter Version. Der Ich-Erzähler Philip, als Sohn des angesehenen Gemälderestaurators Markus inzwischen in die beruflichen Fußstapfen des Vaters getreten, kehrt heim aus London, wo er ein bislang unbekanntes Gemälde Claude Lorrains ersteigert hat. Es treibt ihn in die Stadt und in ein Kaufhaus, wo er plötzlich auf der Rolltreppe an Jodie vorbeigleitet, der inzwischen verheirateten Frau mit Kind, die er vor zehn Jahren einen Sommer lang heiß und innig geliebt hat. Die Begegnung löst in Philip einen Schwall Erinnerungen aus, derer er sich nur durch den Versuch ihrer Niederschrift erwehren kann. Seinerzeit war er aus einem Studium der Kunstgeschichte ausgestiegen und hatte sich u.a. als Platzwart in einem Tennis-Club verdingt. Von der schönen Ivana abgewiesen, ließ er sich umso bereitwilliger von der kessen Jodie einfangen. Alsbald reifte in den beiden Liebenden der Plan, Philips geschiedenen Vater Markus mit Liska, der allein erziehenden Mutter Jodies zu verkuppeln. Es fügt sich, was in der Tennis-Sprache ein »gemischtes Doppel« heißt. Silvio Blatter würzt diese leicht banale Lovestory mit einem diskreten Schuss Humor, indem er den eher kühl temperierten, jetzt aber über beide Ohren verliebten Markus auf ein rassiges Motorrad der Marke Guzzi California umsteigen heißt. Es dauert nicht lange, und sogar die zögerliche Freundin wird als Sozia gewonnen ... Unabgesprochen treffen sich beide Paare eines Tages in Italien; Philip hat es mit Jodie nach Mailand verschlagen, weil er diese Reise - Glückszahl! - im Preisausschreiben einer Zeitschrift gewonnen hat, Markus will Liska auf der Guzzi nicht nur einmal viel weiter entführen, sondern sich auch den Traum erfüllen, vor dem Original von Leonardos »Abendmahl« Restaurationsprobleme zu studieren. Für die Rückkehr nach Zürich überlässt Philip dem Vater mitsamt Freundin die Flugtickets und tauscht dafür das Motorrad ein. Das zweifache Liebesidyll geht doppelt zu Bruch: Markus und Liska sterben beim Absturz ihres Flugzeugs, wonach sich auch Philip und Jodies Wege trennen. In der Raffung mag der Roman durchaus befremden und enttäuschen. Die Geschichte ist bisweilen schon angenehm flüssig erzählt, bisweilen dramaturgisch geschickt retardiert und vor allem elegant auf ihre Träger verteilt, sie ist aber alles andere denn Selbstzweck. Silvio Blatter ist sich und seinem bisherigen Oeuvre insgeheim bemerkenswert treu geblieben. Seine Menschen sind in »Die Glückszahl« noch genau so unbehaust, sich selber entfremdet wie in sämtlichen vorhergehenden Romanen und Erzählungen. Darüber hinaus liegt Blatter die Frage am Herzen: Ist der Mensch wirklich, wie er es gerne glaubt, allein des eignen Glückes (oder auch Unglückes!) Schmied oder ist er der Spielball einer wie immer gearteten Vorsehung. Die vier Hauptpersonen des Romans mit dem denn doch etwas zynischen Titel »Die Glückszahl« scheinen darauf hinzudeuten, dass Blatter glaubt, die Menschen würden wie Puppen an unsichtbaren Fäden bewegt. Auf der Hinterbühne des Romans taucht freilich mehrmals ein Freund Philips auf, der schlicht und einfach Künstler genannt wird, und der nimmt sich - wie zum Beweis des Gegenteils - alle denkbaren bürgerlichen und kreativen Freiheiten heraus. Es heißt, Silvio Blatter habe sich in den neun Jahren seines literarischen Schweigens vor allem mit Malerei befasst; vielleicht ist also »Die Glückszahl« erst die Vorstudie zu einem gewichtigeren Werk mit ungleich größerem metaphysischen Tiefgang. Die Beschäftigung mit Malerei ist jedoch der jetzt vorgelegten Novelle sprachlich, stilistisch ungemein glücklich bekommen. Silvio Blatter: Die Glückszahl. Roman Frank...

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